Angriffe auf die Meinungsfreiheit: Unanfechtbares anfechten

Freiheit heißt, auch die Meinungen zu ertragen, die wir ablehnen. Verbote und vorgeschriebene Bekenntnisse führen zur Entmündigung der Gesellschaft.

Eine Gruppe v on Menschen über deren Mund ein schwarzes Gafferband klebt

„Wir neigen von Haus aus dazu, Meinungen zum Schweigen bringen zu wollen, die wir ablehnen“ Foto: Peter Cade/getty images

Was ist freie Meinungsäußerung? Ein Wildwuchs, lebensprall vielfältig und verwirrend undurchdringlich? Oder – wie hierzulande meist verstanden – ein gut ausgebautes Straßennetz mit Leitplanken des Diskurses und staatlichen Verkehrsregeln? Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom, sagt ein chinesisches Sprichwort. Von wegen, grölt manch ein deutscher Gralshüter: Wer gegen den Strom der herrschenden Meinung schwimmt, ist ein Geisterfahrer.

Vorneweg: Es lässt sich schlichtweg nicht vermeiden, dass die freie Rede gelegentlich eine Zumutung ist, dass sie schmerzt und verletzt und einen zur Weißglut oder gar aus der Fassung bringt. Aber das ist der Preis, den wir zahlen müssen. Denn freie Meinungsäußerung – „das Recht, das Undenkbare zu denken, das Unaussprechliche zu diskutieren und das Unanfechtbare infrage zu stellen“, so Bertrand Russell – ist lebenswichtig für eine pluralistische Gesellschaft.

Wir neigen von Haus aus dazu, Meinungen zum Schweigen bringen zu wollen, die wir ablehnen. Dieses Bedürfnis ist unserer Kultur und unserem Wesen eingeschrieben, seit es Ideologien und Dogmen, Herrschaft und Propaganda gibt. Wir möchten das Unerträgliche zum Schweigen bringen. Weil dem so ist, müssen wir in einer halbwegs freien Gesellschaft wachsam sein gegenüber jedem Versuch, Meinungen zu kontrollieren, egal wie verabscheuungswürdig sie uns erscheinen.

Der Berliner Kultursenator forderte in einer neuen Richtlinie, dass sich jeder, der Förderung beantragt, in einer Erklärung verpflichtet, sich gegen den Antisemitismus gemäß der Definition der International Holocaust Remembrance Alliance zu stellen, sich zu einer vielfältigen Gesellschaft zu bekennen, jede Form der Diskriminierung und Ausgrenzung abzulehnen.

Konformität von Konsens?

Obwohl ich lebenslang ein leidenschaftlicher Kämpfer für Vielfalt gewesen bin – für mich das essentielle Prinzip des Lebens –, wird mir demokratisch unwohl, wenn ein Bekenntnis zur Vielfalt vorgeschrieben wird. Darf das Hochamt der Vielfalt andere Auffassungen von Vielfalt ausgrenzen? Sind wir uns denn alle einig, wie wir Vielfalt verstehen? Oder wird hier Vielfalt durch eine Konformität von Konsens ersetzt? Einen Konsens, der auf einer Definition basiert, die per se nicht endgültig sein kann (wie die Jerusalem Declaration on Antisemitism beweist). Wieso sollte es nicht mehrere Definitionen geben?

„Zwei Definitionen sind besser als eine Definition, weil sie zu Diskussionen Anlass geben. Weil sie einen Raum öffnen, in dem wir eine demokratische Diskussion haben können“, so der israelische Historiker José Brunner. Auf der Webseite der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg sind gar neun unterschiedliche Definitionen angeführt, allesamt bedenkenswert. Etwa die intelligente Zuspitzung des englischen Philosophen Brian Klug: „Anti-Semitism is the process of turning jews into ‚jews‘.“

Sollte es eine solche Definition von Staats wegen überhaupt geben? Das Grundgesetz vertraut auf die Kraft der freien Auseinandersetzung als wirksamstes Mittel gegen Menschenverachtung. Das Bundesverfassungsgericht hat in mehreren Urteilen zum Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 2 GG) festgestellt, dass die gesellschaftliche Willensbildung sich „staatsfrei“, ergo ohne „lenkende und steuernde Einflussnahme des Staates“ und somit „von unten nach oben und nicht umgekehrt“ zu gestalten habe. Mit Denkverboten lässt sich keine humanere, tolerantere Gesellschaft aufbauen. Das bürokratische Einhegen des Diskurses läuft auf eine Entmündigung der Gesellschaft hinaus.

Der Rechtsausschuss des Bundestags hat sich letzte Woche in einer öffentlichen Anhörung mit dem Gesetzesentwurf „zur Änderung des Strafgesetzbuches zur Bekämpfung von Antisemitismus, Terror, Hass und Hetze“ beschäftigt, der „Sympathiewerbung und Volksverhetzung“ verschärft bestrafen soll. Einer der Gutachter, Michael Kubiciel, erklärte, die Gesetzesänderung sei eine gerechtfertigte „nichtallgemeine Einschränkung der Meinungsfreiheit“. Weil es nicht um das Verbot einer bestimmten Meinung gehe, „sondern um den Schutz des öffentlichen Friedens in Deutschland“.

Meinungsfreiheit als gesellschaftliche Notwendigkeit

Hier liegt der Hund begraben. Meinungsfreiheit ist nicht nur ein individuelles Recht, sondern eine gesellschaftliche Notwendigkeit. Es gibt keinen Frieden ohne Freiheit. Ansonsten beginnen wir, uns zurückzuhalten, um nicht in ein Fettnäpfchen zu treten, um auf Nummer sicher zu gehen, um nicht negativ aufzufallen.

Wir benötigen Meinungsfreiheit, um uns mit der Realität auseinanderzusetzen. Wahrheit ist ein Prozess der Annäherung an komplexe Realitäten und nicht das Erreichen eines unverrückbaren Ziels. Das muss oft wiederholt werden, weil viele Angriffe auf die Meinungsfreiheit von einer statischen, absoluten Essenz des Wahren ausgehen. Oft verdammen wir Behauptungen, ohne die Gründe für die divergierende Sichtweise zu bedenken, die es erst einmal zu verstehen gilt. Keineswegs, um sie zu entschuldigen (wenn sie uns verwerflich erscheinen). Aber wie wollen wir die Welt begreifen, wenn wir nicht wissen, warum Menschen anders denken?

Aber sollten wir nicht intolerant gegenüber den Intoleranten sein? „Was aber tun wir in Sachen Meinungsfreiheit, wenn sie auf vielfältige Weise missbraucht wird?“ So Salman Rushdie in seiner Rede zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2023. „Die Antwort ist, dass wir weiterhin und mit frischem Elan machen sollten, was wir schon immer tun mussten: schlechte Rede mit besserer Rede kontern.“ Shabash!

Wer eine bestimmte Sicht der Dinge durchsetzen will, neigt dazu, seine Wünsche in Gesetze zu gießen, um Widerspruch zu illegitimieren. Aber wer Geschichte als fortgesetzte Erschütterung von unverrückbaren Glaubenssätzen versteht, sollte einsehen, dass der freie Wettbewerb der Meinungen uns davor bewahrt, die Dunkelheit stets bei den „Anderen“ zu verorten und nie bei uns selbst.

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