Inklusives Theater in München: Das disruptive Moment
Das All Abled Arts Festival zeigt Kunst von Menschen mit Behinderung. Das Programm der Münchner Kammerspiele stimmt nachdenklich und macht Spaß.
„Theater: Wie inklusiv kann es sein?“ ist der Titel des Podiumsgesprächs beim All Abled Arts Festival an den Münchner Kammerspielen. Genauso gut könnte man fragen, wem das Theater gehört. Sollen diejenigen, die bisher nicht Teil von ihm waren, nur zugelassen oder auch eingeladen werden? Muss sich dafür das System ändern, das sie empfängt? Die Räume, die Arbeitsabläufe, der Umgang miteinander, die verwendeten Sprachen? Und wäre das ein Verlust oder ein Gewinn?
Die Fragen, die sich Theater stellen, die Menschen mit anderen Lernmöglichkeiten oder körperlichen Behinderungen als Künstler und Zuschauer zu integrieren erwägen, tauchen ganz ähnlich auch auf gesellschaftlicher Ebene auf. Eine diverse Gesellschaft ist herausfordernd. Da hilft es, wenn man Veränderungen und ein gewisses Quantum an Unkalkulierbarkeit umarmen und Widersprüche aushalten kann. Stichwort Ambiguitätstoleranz.
Wüsste man genau, wie man sie sich zulegt, wären wir viele Probleme los. Wer sie besitzt, muss jedenfalls weder die AfD wählen noch den Untergang des Abendlandes beschwören, wenn an einem der wichtigsten Sprechtheater Deutschlands zum ersten Mal ein Abend „in leichter Sprache“ auf dem Programm steht. Leichte Sprache, das heißt: kurze Sätze, einfache Worte, Reduktion auf den Bedeutungskern.
Als „Anti•gone“ nach Sophokles, inszeniert von Nele Jahnke, im Februar 2023 an den Münchner Kammerspielen Premiere hatte, ploppten in einigen Kritiken illustre Gegensatzpaare auf: Kunst und Soziopolitik, Niveau und Inklusion, „großes Theater“ und „zielgruppenorientierte Gebrauchsware für die Vervollständigung des Gesinnungshaushalts“.
Ausnahmebegabung
Derlei verrät mehr über den Kunstbegriff der Rezensent*innen als über den Abend, der ganz andere Schwächen hat. Etwa die, dass Johanna Kappaufs Antigone derart freudestrahlend in den Tod geht, dass der jeden Schrecken verliert. Kappauf ist eine Ausnahmebegabung, nicht nur unter den Schauspieler*innen mit kognitiver Beeinträchtigung.
Beim All Abled Arts Festival war sie auch noch einmal in Jan-Christoph Gockels Alexander-Kluge-Revue „Wer immer hofft, stirbt singend“ zu sehen, die sie mit ihrem ansteckenden Glauben daran, dass im Theater alles möglich ist, imprägnierte: ein irrwitzig hoffnungsvoller Abend!
So viele Gestalten, die Kunst mit und von Menschen mit Behinderungen annehmen kann, sie unterscheidet sich in einigen Punkten von dem, was man zu sehen und hören gewohnt ist. Etwas holpert in der verbalen oder körperlichen Artikulation, rumpelt, scheint sogar zu stören?
Sichtbare Verbiegungen
Wolfram Lotz, einer der aufregendsten deutschsprachigen Dramatiker und als Stotterer selbst so ein Störfeuerteufel, begrüßt das in seinem fulminanten Impulsvortrag. Sein Fazit: „Theater ist seltsames Sprechen, seltsames Aussehen, seltsames Bewegen … Da ist jeder Körper eine Hilfe, der eine sichtbare Verbiegung aufweist.“ Alles, was an den Apparat „heranbumselt und ihn zum Stottern bringt“.
Für Ben Evans, zuständig für den Bereich Arts & Disability im British Council, steht das, was er „das disruptive Element“ nennt, am Anfang jeder künstlerischen Avantgarde; am auffälligsten vielleicht im Tanz, in dem Körper mit Besonderheiten neue Bewegungsqualitäten hervorbringen.
Eine kleine Warnung hat Evans aber auch mit im Gepäck: Vollständige Assimilation dieser Künstler vernichtet, was sie besonders macht. Sein Tipp: Die Peripherie finanziell besser auszustatten. Sprich: Die freie Szene, in der inklusives Theater schon seit Jahren praktiziert wird.
Vorreiterrolle der Kammerspiele
Zum Beispiel vom Berliner RambaZamba, das mit „Läuft!“ in München war – oder vom Schweizer Theater Hora, das mit „Schule der Liebenden“ einen behutsamen (Selbst-)Aufklärungsfilm in bonbonbunter Teletubbies-Ästhetik vorbeischickte. Und als Anna Mülter, Leiterin des Festivals Theaterformen, das Münchner Publikum als „privilegiert“ bezeichnete, spielte sie zwar auf die Vorreiterrolle der Kammerspiele in Sachen Inklusion an, hätte aber ebenso gut auch die Tatsache meinen können, dass hier eine kleine freie Institution wie das Theater am Sozialamt (TamS) bereits zehn Ausgaben des inklusiven Festivals „Grenzgänger“ gestemmt hat. Weshalb man in München auch internationale Kompanien kennt und weiß, dass Deutschland in Sachen Inklusion noch am Anfang steht.
Das geben auch alle Beteiligten zu. Und damit der Anfang Blüten treibt, hat die Kulturstiftung des Bundes das Programm pik („Programm für inklusive Kunstpraxis“) aufgelegt, das seit 2022 Kooperationen zwischen großen Häusern und freien Gruppen unterstützt. Die seit Beginn der Intendanz von Barbara Mundel bestehende Allianz zwischen den Münchner Kammerspielen und der Freien Bühne München ist da nur eine von sieben. Vier Absolvent*innen der inklusiven Ausbildungsstätte gehören seitdem fest zum Ensemble sowie mit Lucy Wilke und Erwin Aljukić zwei Schauspieler/Tänzer*innen, die im Rollstuhl sitzen.
Schräg wie respektlos
Und Samuel Koch, der seit seinem Unfall bei „Wetten, dass..?“ 2012 querschnittsgelähmt ist, möchte man ebenfalls stärker ans Haus binden. Zum Festivalauftakt hat Koch eine nachdenkliche Note zu „Läuft!“ beigesteuert.
Man kennt diesen von Leander Haußmann inszenierten, so schräg wie respektlos an allen gesellschaftlichen Diskursfeldern entlangschrammenden RambaZamba-Abend ja in Berlin, an dem Robin Krakowski den Kollegen als Tetraplegiker vorstellt: „Der bewegt sich so viel wie ein Tetrapak. So merke ich mir das immer.“ Das Bild, das Koch selbst darin für das Leben mit Behinderung findet: Du träumst jahrelang von Italien, besteigst voller Vorfreude den Flieger – und landest in Holland. Nie wolltest du da hin. Aber wenn du weiterhin Italien nachtrauerst, wirst du nie die Schönheit von Holland erkennen.
Für angeborene Behinderungen taugt dieses Bild weniger, für die Betrachtung inklusiver Kunst aber umso mehr. Da ist zum Beispiel die Show der Gruppe „Drag Syndrome“ aus London. Die einfache Auf- und Abtrittsdramaturgie der ersten Dragqueens mit Trisomie 21 ist ohne doppelten Boden oder zweite Bedeutungsebene. Wer darin aber nicht Italien sucht, sondern sich auf Holland einlässt, kann sich mit Menschen freuen, die ihre nicht normativen Körpern und glamourösen Verkleidungen feiern und es genießen, sich zu zeigen. Und schon wird einem so warm ums Herz wie auf Sizilien. Mindestens.
Tabuisierte Sexualität
„Hört uns, seht uns, nehmt uns ernst!“ Dieser Appell, den die Bloggerin Natalie Dedreux dem Festival voranschickte, liegt auch als stille Leitmelodie unter der Arbeit des Teatr 21 aus Warschau, das in „Libido Romantico“ erotische Texte von Adam Mickiewicz, die vor zweihundert Jahren als skandalös galten, mit ihren Erfahrungen als Menschen mit Downsyndrom konfrontiert, deren Sexualität immer noch tabuisiert oder sogar medikamentös unterdrückt wird.
„Mein behinderter Körper ist unmoralisch“, sagt eine der Schauspielerinnen. Und: „Moral ist auch Sexismus.“ An einem poetischen und ungeheuer disziplinierten Abend, über den man gerne wüsste, wie viel disruptive Energie der Akteur*innen in ihn eingeflossen ist. Da stottert und stört fast nichts.
Dagegen ist „Horror und andere Sachen“ geradezu ein Disruptions-Orkan: In diesem „Splatter-Tanz“ führt Tiziana Pagliaro vom Theater Hora live Regie, ruft dem Ensemble der Münchner Kammerspiele von der Rampe aus Kommandos zu – und freut sich diebisch, wenn Spinnen, Mörderpuppen und anderen Gruselmonster ordentlich Kunstblut verspritzen. Diese anarchische Gaudi ist die erste Arbeit einer Regisseurin mit kognitiver Beeinträchtigung an einem deutschen Stadttheater. Und „Disabled Leadership“ ist dann vielleicht ein Thema für ein Festival der Zukunft.
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