Immer mehr Abschiebungen in Hamburg: „Es trifft vor allem Familien“
Hamburgs rot-grüner Senat schiebt immer mehr Asylsuchende ab. Anders als in Berlin soll es einen humanitären Abschiebestopp im Winter nicht geben.
In den Augen der Linksfraktion ist die Politik der übereifrigen Abschiebungen Ausdruck einer flüchtlingsfeindlichen Stimmung nicht nur in Hamburg. Die migrationspolitische Sprecherin, Carola Ensslen, ist erschüttert über das Ausmaß der „Abschiebebegeisterung“, die besonders geflüchtete Familien aus den Westbalkanstaaten treffe.
„Die Situation in den Herkunftsländern verschärft sich in den Wintermonaten zusätzlich“, sagt Ensslen. „Viele Geflüchtete werden sehenden Auges Diskriminierung, Marginalisierung und Obdachlosigkeit ausgesetzt.“
Die Linke fordert die Hamburger Bürgerschaft, wie schon in vergangenen Wintern, auf, einen humanitären Winterabschiebestopp zu verhängen – doch ohne Erfolg. Das einzige Bundesland, das dieses Jahr einen Winterabschiebestopp verhängt hat, ist Berlin.
Die Linksfraktion kritisiert besonders unangekündigte Abschiebungen und solche von Kindern und Jugendlichen aus dem laufenden Schulbetrieb. Seit den Verschärfungen des Asylrechts im Jahr 2015 und den stetigen weiteren Verschlechterungen der rechtlichen Situation Schutzsuchender haben die Ausländerbehörden solche Praktiken als Standard etabliert. So werden Kinder und Jugendliche von heute auf morgen ihrem Umfeld und ihren Freundeskreisen entrissen.
Wiebke Judith, Pro Asyl
Dabei ist die Lebenssituation schutzbedürftiger Minderheiten wie Rom*nja, Ashkali und Goran*innen vor allem in den Westbalkanstaaten oft existenziell bedroht. Die Linksfraktion weist in ihrem Antrag darauf hin, dass dorthin Abgeschobene zum Teil kaum Zugang zu Krankenversorgung, Arbeitsmarkt, Schulbildung und Wohnraum haben.
Ein weiterer Risikofaktor sei die Energiekrise. Etwa in Moldau träfen die Preissteigerungen besonders die ärmeren Bevölkerungsschichten, zu denen Minderheiten gehören. Eine humanitäre Zwischenlösung nach dem Berliner Vorbild sei auch in Hamburg dringend nötig, fordert Ensslen.
Doch wieso ist, was in Berlin klappt, in Hamburg offenbar undenkbar? Kazim Abaci, Fachsprecher für Geflüchtete der SPD-Fraktion, verweist dazu auf die Rechtsstaatlichkeit der Abschiebevorgänge: „Rückführungen fußen auf rechtsstaatlichen Verfahren, die saisonunabhängig für jeden Fall individuelle Gefahren berücksichtigen“, sagt er auf Nachfrage der taz. „Die Menschen, deren Aufenthalt nicht rechtens ist, müssen zurückkehren, damit Schutzsuchende mit berechtigtem Asylanspruch aufgenommen werden können.“
Aktivist:innen kritisieren diese „Saisonunabhängigkeit“ scharf. Wiebke Judith, die rechtspolitische Sprecherin der Organisation Pro Asyl, sagt: „Man braucht nur wenig Anstand, um zu erkennen, dass Abschiebungen besonders im Winter gesundheitsgefährdend oder gar lebensgefährlich sein können.“ Vor allem dann, wenn man davon ausgehen müsse, dass Menschen bei teils eisigen Temperaturen in ihren Herkunftsländern keine angemessene Unterkunft finden.
Auch die Linksfraktion überzeugt das von der SPD angeführte Argument der Rechtsstaatlichkeit nicht. Zudem gebe es ja eine Lösung, die ebenfalls rechtsstaatlichen Kriterien entspreche, sagt Ensslen. Diese finde sich im Aufenthaltsgesetz, das die Zuwanderung in Deutschland regelt. So kann „die oberste Landesbehörde aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen anordnen, dass die Abschiebung in bestimmte Staaten für längstens drei Monate ausgesetzt wird“. So steht es in Paragraf 60a, Absatz 1 des Gesetzes.
Winterlicher Abschiebestopp für drei Monate
Auf dieser Grundlage hat auch Berlin den winterlichen Abschiebestopp verhängt. Für drei Monate, mit einer Verlängerung auf bis zu sechs Monate, könnte für Gruppen, deren Herkunftsländer von kalten Temperaturen gezeichnet sind, Abschiebungen gestoppt und so Familien vor einem existenzbedrohenden Winter geschützt werden.
Abgesehen vom Leid der Betroffenen habe die aggressive Stimmungsmache gegen Geflüchtete noch einen anderen negativen Effekt, sagt Ensslen: „Jegliche Form von migrationsfeindlicher Politik stärkt die AfD“, warnt die Linkenabgeordnete. Die menschenfeindliche Asylpolitik der Bundesregierung, die sich zuletzt in der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) niederschlug, stärke den Aufwärtstrend der Rechten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um Termin für Bundestagswahl
Vor März wird das nichts
Bewertung aus dem Bundesinnenministerium
Auch Hamas-Dreiecke nun verboten
Habecks Ansage zur Kanzlerkandidatur
Pragmatismus am Küchentisch
Solidaritätszuschlag in Karlsruhe
Soli oder Haushaltsloch
Belästigung durch Hertha-BSC-Fans
Alkoholisierte Übergriffe im Zug
Vorgezogene Bundestagswahl
Ist Scholz noch der richtige Kandidat?