piwik no script img

Spannungen in ukrainischer FührungSelenskyj bekommt Gegenwind

In der militärischen und politischen Führung der Ukraine rumort es. Währenddessen erfordert die Lage an der Front neue Lösungen.

Präsident Selenskyj will lieber direkt mit dem Kommandeur der ukrainischen Bodentruppen (r.) reden Foto: Efrem Lukatsky/ap/dpa

BERLIN taz | Die Beziehungen zwischen dem ukrainischen Präsident Wolodymyr Selenskyj und dem Armeechef Waleri Saluschni spitzen sich weiter zu. Gerüchte über Unstimmigkeiten werden seit einem Monat in der ukrainischen und internationalen Presse aktiv diskutiert.

Kürzlich veröffentlichte das Online-Portal Ukrajinska Prawda einen Artikel, in dem anonyme Quellen zitiert wurden, wonach Selenskyj es vorziehe, direkt mit den Kommandeuren der einzelnen Armeeabteilungen zu kommunizieren – um dabei den Oberbefehlshaber Saluschni zu umgehen. Erklärt wird es damit, dass Selenskyj sich einen schnelleren Informationsaustausch mit dem Kommandeur der Landstreitkräfte, Oleksandr Sirski, oder dem Befehlshaber der Luftwaffe, Mikola Oleshchuk, wünscht. Dies würde sowohl die Hierarchie durchbrechen als auch Saluschni behindern, die gesamte Armee zu befehligen.

Nach Angaben von Ukrajinska Prawda habe sich auch General Saluschni geäußert. Während seines letzten Besuchs in Kyjiw Ende November hätte sich Saluschni beim Pentagon-Chef Lloyd Austin beschwert. Dies solle Selenskyj noch mehr verärgert haben, denn er fühlt sich durch die Einmischung von Außenstehenden in seine Kommunikationsstrategie mit den westlichen Verbündeten belästigt.

Obwohl Saluschni nie seine politischen Ambitionen erklärt hat, ist er derzeit der Einzige, der Selenskyj bei den Präsidentschaftswahlen Konkurrenz machen könnte. Laut einer unveröffentlichten Umfrage der renommierten Forschungsgruppe „Rating“ hat Selenskyj derzeit 47,4 Prozent Unterstützung – Saluschni kommt auf 30,7 Prozent. Im Fall einer Stichwahl wäre der Abstand noch geringer: 42 Prozent der Befragten würden für Selenskyj stimmen, 40 Prozent für Saluschni.

Kyjiwer Bürgermeister kritisiert auch Selenskyj

Öl ins Feuer goss in diesem Zusammenhang auch der bekannte Kyjiwer Bürgermeister Witali Klitschko, der seit Langem mit dem ukrainischen Präsidenten im Clinch liegt. In einem Interview mit dem Schweizer Nachrichtenportal 20 Minuten sprach sich Klitschko für Salusch­ni aus und kritisierte Selenskyj scharf.

„Meine Einheit startet drei Drohnen pro Tag, der Feind antwortet mit 60“

Anton, ukrainischer Soldat

„Ich befürchte, dass dieser interne Streit, bei dem nicht klar ist, worum und gegen wen es genau geht, uns im Krieg an der Hauptfront schwächen wird. Wegen dieser politischen Querelen könnten wir die Unterstützung unserer Verbündeten verlieren“, sagt die 65-jährige Nataliya aus Kyjiw. Auch Militärangehörige beobachten die Entwicklungen im Land mit Fassungslosigkeit: „Das ist das Dümmste, was uns jetzt passieren kann. Wir werden alles selbst zerstören“, kommentiert der 35-jährige Soldat Anton, der jetzt im Donbass an der Front ist. Die militärische und politische Führung der Ukraine müsse jetzt vor allem an die Armee denken, fügt er hinzu.

Sowohl die Militärangehörigen selbst als auch ihre Verwandten sprechen von der Dringlichkeit einer Demobilisierung derjenigen, die länger als ein Jahr ohne Rotation an der Front waren. In den ukrainischen Städten finden vermehrt Aktionen von Angehörigen der Soldaten statt, die eine Demobilisierung fordern. „Die Armee ist keine Sklaverei. Andere sollen nun das Land verteidigen“, ist der häufigste Aufruf.

Ausbildung für ukrainische Soldaten verzögert sich

Anton ist der Ansicht, dass mobilisierte Personen und ihre Angehörigen das Recht haben, die Dauer ihres Dienstes zu erfahren, ebenso wie sie das Recht auf Rotation und Demobilisierung haben. Trotzdem, selbst wenn die Demobilisierung kommt, würde der junge Soldat weiter in seiner Sturmeinheit kämpfen, denn es gibt Personalmangel und hohe Verluste. „In meiner Einheit sollten laut Personalplan 130 Leute sein, jetzt sind es etwa 70, davon würden sechs unter die Demobilisierung fallen“. Für die Durchführung einer Rotation muss eine bestimmte Anzahl von Soldaten ausgebildet werden. Anton zufolge ist der Ausbildungsstand der Mobilisierten in letzter Zeit deutlich gesunken. „Unter den Neuankömmlingen sind oft Männer, die einfach direkt auf der Straße einberufen wurden“, erzählt er.

Trotz Mobilisierungsproblemen führt die ukrainische Armee weiterhin Angriffsoperationen durch. Immer mehr Analysten sehen jedoch Anzeichen für eine allmähliche Verlagerung hin zur strategischen Verteidigung. Darauf deuten auch die jüngsten Äußerungen des ukrainischen Präsidenten hin, der wiederholt auf die Notwendigkeit hinwies, dringend große Verteidigungsanlagen an der Front zu errichten. Dies geschieht in erster Linie, um die derzeit sehr knappen Ressourcen der ukrainischen Armee zu schonen. Gleichzeitig führt die Ukraine immer wieder Angriffe auf Russland durch.

Der Übergang zur strategischen Verteidigung ist ein erzwungener Schritt unter anderem aufgrund der Verzögerung bei der Freigabe des US-amerikanischen Militärhilfepakets. Die ukrainische Armee leidet an der gesamten Frontlinie unter akutem Mangel an Artilleriemunition. „Unsere Einheit spart an jeder Granate“, kommentierte einer der Soldaten die Situation.

Russland ist sich dessen bewusst und versucht mit allen Mitteln, die momentan physisch und moralisch schwache Ukraine an den Verhandlungstisch zu bringen, um einen Waffenstillstand zu erreichen, der zur Einfrierung des Konflikts und zu weiteren Gebietsverlusten für die Ukraine führen würde. Gleichzeitig hat Russland an mehreren Frontabschnitten Angriffsoperationen gestartet.

Die ukrainische Armee versucht, den Mangel an Artilleriegranaten teilweise mit Drohnen auszugleichen. Ukrainische Kampfdrohnen kamen erstmals bei der Befreiung der Region Charkiw zum Einsatz. An einigen Frontabschnitten dominieren trotzdem die russischen Drohnen: „Meine Einheit startet drei Drohnen pro Tag, während der Feind mit 60 antwortet“, erzählt Anton. Dem Soldaten zufolge können Drohnen die Artilleriegranaten nicht ersetzen, aber unter den derzeitigen Umständen sind sie eine der effektivsten Alternativen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen