Aufklärung in Benin: Über Sex sprechen
In Benin sind Verhütung und Sexualität Tabuthemen. Die Zahl an Teenagerschwangerschaften ist hoch. Die 24-jährige Hermione Quenum will das Schweigen brechen.
D ie Metalltür des kleinen weißen Containers quietscht, als Hermione Quenum sie öffnet. In roter Schrift steht „Oreilles Attentives“ darauf, was „aufmerksame Ohren“ bedeutet. Der Raum ist nur wenige Quadratmeter groß. In der Mitte steht ein Holztisch mit einer karierten Decke, um ihn herum drei Stühle. Auf den Tisch stellt die 24-Jährige Plastikboxen mit Perlen in Rot, Rosa, Gelb und Weiß. Sie legt Scheren und Bindfäden hinzu sowie Informationsbroschüren und Grafiken. Eine ist besonders wichtig: In verschiedenen Farben zeigt sie den monatlichen Zyklus. Daneben steht geschrieben, wann die fruchtbaren Tage sind und wann Geschlechtsverkehr nicht zu einer Schwangerschaft führt.
Dieser Artikel ist im Rahmen des Medienpreises „Weltbevölkerung“ der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung (DSW) entstanden. Die DSW finanziert Recherchereisen nach Afrika südlich der Sahara zu den Themen Bevölkerungsentwicklung, globale Gesundheit und Geschlechter(un)gerechtigkeit.
Andrea Wojtkowiak und Katrin Gänsler gehören zu den diesjährigen Preisträger:innen. Sie wurden für ihre hier stehende Arbeit zu Sexualität, Aufklärung, Familienplanung in Benin ausgezeichnet.
Die Schüler:innen können kommen. Der Container steht etwas versteckt auf dem Gelände der weiterführenden Schule CEG la Verdure in der Stadt Calavi, die an Benins Hafenmetropole Cotonou grenzt. Das hat den Vorteil, dass nicht gleich hunderte andere sehen, wer ihn betritt, um mit den Berater:innen der nichtstaatlichen Organisation Apessa über Sexualität, Verhütung und Liebe zu sprechen.
Die NGO betreibt die Aufklärungskioske an verschiedenen Bildungseinrichtungen im Süden Benins. Heute übernimmt Hermione Quenum die Gespräche. Die ersten Interessierten lassen nicht lange auf sich warten. Die 19-jährige Syanath Boukart und die 17-jährige Hanniella Assah setzen sich zu ihr. Hermione Quenum fragt sie, ob ihre Regelblutung regelmäßig kommt, und erklärt, wie sie den Eisprung berechnen.
In Benin, wo rund 14 Millionen Menschen leben, gibt es gerade eine großangelegte Kampagne für Kondome. Plakate werben für geschützten Sex, auf einem ist ein junges Paar auf einem Moped zu sehen. Auch in Supermärkten liegen Kondome verschiedener Marken sichtbar neben der Kasse aus. Apotheken verkaufen die Pille ohne Rezept. Auch die „Pille danach“ ist frei verkäuflich.
Illegale Abbrüche eindämmen
Benin verabschiedete schon 2003 ein Gesetz, in dem es heißt, dass jede:r das Recht hat, eine passende Verhütungsmethode auszuwählen. Zeitgleich kündigte die Regierung an, den Zugang zu verbessern. In der ganzen Region machte vor zwei Jahren die Liberalisierung des Abtreibungsrechts Schlagzeilen.
Empfohlener externer Inhalt
Seitdem können Frauen in ausgewählten Kliniken nicht nur dann einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen, wenn ihr Leben oder das des ungeborenen Kindes unmittelbar in Gefahr ist oder sie vergewaltigt wurden. Auch psychische Probleme sowie die Angst, sich nicht um das Kind kümmern zu können, sind Indikatoren. Ziel war es, die hohe Zahl an „heimlichen, illegalen Abbrüchen einzudämmen“. Dabei sollen mindestens 200 Frauen jährlich gestorben sein.
Kritiker:innen wie die katholische Bischofskonferenz setzten sich nicht durch. Das Gesetz gilt in Westafrika als beispielhaft. Allerdings gibt es ein starkes Gefälle zwischen Stadt und Land. Wer auf dem Dorf lebt, hat häufig nicht einmal genügend Geld, um im Krankheitsfall in die nächste Kleinstadt zu fahren. Auch ist die medizinische Ausstattung dort oft mangelhaft.
Let´s talk about Sex in Benin
Und nach wie vor ist Sexualität in der Gesellschaft tabuisiert. Hermione Quenum hat die Kisten geöffnet und nimmt die kleinen Plastikperlen in die Hand. Sie fragt die Schülerinnen, an wie vielen Tagen sie ihre Regelblutung haben. Für jeden Tag gibt sie ihnen eine rote Perle. Diese werden zwischen jene in Weiß gefädelt.
Hanniella Assah blickt kurz auf. „Im Schnitt komme ich dreimal im Monat her“, erzählt sie. Für sie ist es der einzige Ort, an dem sie Fragen zur Sexualität stellen kann. „Bei meinen Eltern ist das nicht möglich. So etwas machen wir nicht. Wenn ich es doch machen würde, würde es heißen: Du bist verdorben.“ Die Eltern würden vermuten, dass die Schülerin Geschlechtsverkehr hatte und möglicherweise schwanger sei.
Hermione Quenum (24), Aufklärerin
Bei Hermione Quenum ist das anders. Sie trägt Jeans, ein weißes T-Shirt und ermuntert die Jugendlichen, Fragen zu stellen. Auch fordert sie immer wieder dazu auf, ihre Erklärungen zu wiederholen. Sie will sicher gehen, dass die Informationen verstanden werden. Studiert hat sie Erziehungswissenschaften. Ihr Ziel war es, für eine nichtstaatliche Organisation zu arbeiten.
Mit dem Aufklärungsunterricht identifiziert sie sich. „Ich war schließlich auch mal eine Jugendliche und erinnere mich gut: Sexualität ist ein Tabu gewesen.“ Hermione Quenum fand es frustrierend, mit niemandem sprechen zu können. „Ich habe Freundinnen gefragt, gelesen, im Internet geschaut. Aber nicht immer waren alle Informationen korrekt. Manchmal ist man ziemlich verloren.“
Empfohlener externer Inhalt
Apessa wurde im Jahr 2013 von Christelle Assogba gegründet. Damals stand HIV-Prävention im Vordergrund. „Ich merkte allerdings, dass es so viele Tabus um Sexualität gibt, und entschied, dass wir darüber sprechen müssen. Dafür war es nötig, geschützte Räume zu schaffen.“ Die Schulkioske entstanden. Das Modell nutzen auch andere NGOs, etwa im Nachbarland Togo. Christel Assogba wollte aber noch mehr: Sexualkunde sollte Teil des Schulprogramms werden. „Die Jugendlichen sind die Erwachsenen von morgen. Wenn wir eine moderne, sachkundige Nation haben wollen, dann muss diese auch über alles Bescheid wissen“, lautet ihre Position.
Für diesen Plan hat sie Epiphane Azone gewinnen können. Er ist der Präsident der Elternvertreter:innen von Benin. Den eher ungewöhnlichen Plan, im Klassenzimmer über Sexualität zu sprechen, hat er schnell unterstützt. „Nichtstaatliche Organisationen haben die Relevanz des Themas entdeckt. Seit einigen Jahren spricht auch die Regierung darüber.“
In den Nachbrländern ist es anders
Ein eigenes Schulfach ist die „Sexuelle Gesundheit“ nicht geworden. An den ersten Schulen im Land wird aber im Französischunterricht sowie in der Naturwissenschaftskunde darüber gesprochen. Landesweit sind dafür Lehrer:innen ausgebildet worden. Die Kritik hält sich in Grenzen. In Nachbarländern war das anders.
In Ghana sagten beispielsweise Kirchenvertreter:innen, Sexualkunde würde Homosexualität fördern. Auch in Nigeria gab es Forderungen, nicht im Unterricht über Sexualität zu sprechen. Mitunter heißt es auch: Der globale Norden wolle Einfluss nehmen. Für Sexualkunde setzt sich auch die Unesco ein. Laut der Organisation wissen südlich der Sahara nur 37 Prozent der jungen Menschen, wie HIV übertragen wird und wie man sich davor schützt. Sie betont auch: „Frühe Heirat sowie zeitige und ungewollte Schwangerschaften stellen weltweit ein Problem für die Gesundheit und Bildung von Mädchen dar.“
Das kleine Armband von Hanniella Assah ist fertig, die Schülerin streift es über die Hand. „Ich habe Angst, schwanger zu werden. So etwas wollen unsere Eltern gar nicht sehen. Wir sind doch noch gar nicht erwachsen“, sagt sie. Eine Teenagerschwangerschaft bedeutet für viele Mädchen das Ende ihrer beruflichen Karriere, bevor diese überhaupt angefangen hat. Dass der Vater regelmäßig Unterhalt für das Kind zahlt, lässt sich kaum durchsetzen.
In einigen westafrikanischen Ländern wurden schwangere Schülerinnen sogar aus den Klassenzimmern verscheucht. In Sierra Leone galt ein Schulverbot für schwangere Mädchen fünf Jahre lang, bis der Gerichtshof der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (Ecowas) im Jahr 2020 feststellte, dass die Regierung das Recht auf Bildung verletze. Entstanden war das Verbot ausgerechnet während der Ebola-Epidemie. An dem Virus starben offiziellen Angaben zufolge knapp 4.000 Menschen. Das öffentliche Leben stand lange still, worunter Mädchen gleich mehrfach litten: Schulen blieben lange geschlossen. Das Risiko, minderjährig verheiratet zu werden, stieg ebenso wie die Gefahr von sexuellem Missbrauch.
Maël Gangnon, 19-Jähriger aus Calavi
Um den Aufklärungskiosk in Calavi stehen auch ein paar Jungs herum, die das Beratungsangebot ebenfalls nutzen. Darunter ist der 19-jährige Maël Gangnon. „Uns geht es nicht anders: Auch wir haben Angst davor, dass ein Mädchen schwanger wird.“ Seine Freunde nicken. Das traditionelle Familienbild spielt eine entscheidende Rolle. „Bevor ich heirate und Kinder habe, muss ich einen Beruf haben, damit ich für eine Familie sorgen kann.“
Verlässliche Zahlen über Teenagerschwangerschaften gibt es nicht. In einer vor zehn Jahren veröffentlichten Untersuchung von Unicef und dem nationalen Institut für Statistik und Wirtschaftsanalyse heißt es, dass jedes dritte Mädchen vor der Volljährigkeit schwanger geworden ist.
Zwischen 2016 und 2020 wurden vom Ministerium für weiterführende, technische sowie berufliche Bildung mehr als 9.000 Fälle von Schwangerschaften an öffentlichen und privaten Schulen registriert. Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen. Häufig bleiben die Betroffenen einfach dem Schulunterricht fern, ohne dass nach den Gründen gefragt wird.
Die wirtschaftlichen Konsequenzen sind enorm. Minderjährige Mütter haben kaum Chancen auf eine Berufsausbildung, für die üblicherweise die Lehrlinge eine Gebühr an die Ausbilder:innen zahlen. Ein Studium aufzunehmen und abzuschließen, ist noch schwieriger.
Dabei will der 2016 zum Präsidenten gewählte Patrice Talon aus Benin einen modernen Staat machen. Das Programm „Bénin Révélé“ soll der ökonomische Wendepunkt werden. Nach Angaben der Weltbank lag das Wirtschaftswachstum 2022 bei 6,3 Prozent und die Inflation im Juli bei 3,9 Prozent. Talon setzt auf Industrialisierung, wozu die Sonderwirtschaftszone 45 Kilometer nördlich von Cotonou beitragen soll. Auf politischer Ebene gilt Benin nach Bewertung der nichtstaatlichen Organisation Freedom House allerdings nur noch als „teilweise frei“. In den vergangenen Jahren wurden mehrere Oppositionspolitiker:innen zu langjährigen Haftstrafen verurteilt.
Ein paar Tage später ist die Aufklärerin Hermione Quenum mit dem Auto von Cotonou in das nördlich gelegene Bohicon unterwegs. Die Stadt mit rund 150.000 Einwohnern ist deutlich ländlicher als die Wirtschaftsmetropole Cotonou. Die Autofahrt dauert rund drei Stunden. Hermione hat wieder ihre Kisten mit den Perlen dabei und zwei Nähmaschinen. Ihr Ziel: der „Friseursalon Anna“, den Anne-Marie Zinzindohoue vor fast 30 Jahren aufgebaut hat.
Wir nähen uns eine Binde
Im Salon angekommen, geht Hermione Quenum in einen kleinen Nebenraum. An den Wänden hängen hunderte künstliche Haarsträhnen in zahlreichen Blond-, Braun- und Schwarztönen. Gelockt, gewellt, glatt, die Kundinnen haben eine große Auswahl für ihre geflochtenen Zöpfe. Hermione bekommt einen Tisch, rund 20 junge Frauen in knallpinken T-Shirts mit dem Namen des Salons drängeln sich mit Stühlen rundherum.
Auch hier erzählt Quenum zunächst über den Zyklus. Die angehenden Friseurinnen sind zwischen 16 und 23 Jahre alt, trotzdem ist es für viele das erste Gespräch über das Tabuthema. Manchen ist es peinlich, sie kichern, gucken verschämt zu Boden, andere stellen viele Fragen. Wie auch die 22-jährige Elmine Rissèle Alladaye.
Anne-Marie Zinzindohoue (43), Salonbesitzerin
Seit einem halben Jahr macht sie hier ihre Ausbildung. Sie weiß jetzt, wie sie ihren Zyklus berechnen kann, in der Schule hat sie das nicht gelernt. Mit ihrem Freund spricht sie nicht über das Thema, um die Verhütung kümmert sie sich selbst. „Ich muss nicht mit ihm darüber reden, denn er weiß schon, dass ich geschützt bin, also ist alles in Ordnung.“ Sie nutzt die hormonelle Dreimonatsspritze, ein Verhütungsmittel, bei dem schwere Nebenwirkungen auftreten können, in Deutschland wird sie selten verschrieben. In vielen afrikanischen Ländern wird sie deutlich häufiger angeboten.
Hermione Quenum erklärt geduldig, manchmal wechselt sie von Französisch in die Regionalsprache Fon. Sie will, dass wirklich jede versteht, was sie sagt. Schließlich kann ihre Zukunft von dem Wissen abhängen. Die Salonbesitzerin Anne-Marie Zinzindohoue guckt kurz in das Hinterzimmer herein. Sie arbeitet seit fünf Jahren mit der Organisation Apessa zusammen. Derzeit machen 43 junge Frauen ihre Ausbildung bei ihr. „Früher gab es jedes Jahr mindestens vier Schwangerschaften; seit wir mit dem Projekt begonnen haben, keine mehr. Für mich ist es wichtig, dass sie ihre Ausbildung abschließen, damit sie später einen Beruf finden, das ist sehr, sehr wichtig.“ Dafür lässt sie die Aufklärungsarbeit auch während der Arbeitszeit stattfinden.
Ein Tabu fördert Klischees
In der Zwischenzeit hat Hermione Quenum die beiden Nähmaschinen aufgebaut und zahlreiche Stoffe auf dem Tisch verteilt. Sie zeigt eine selbstgenähte Binde, die sie jetzt mit den Frauen anfertigen will. Auch Hygieneprodukte sind für viele neu. In den Supermärkten sind zwar Binden verschiedener Marken erhältlich, doch die Preise der Einwegprodukte sind so hoch, kaum eine Frau kann sich sie leisten. In Benin nutzen die meisten alte Stoffreste während der Periode.
Die waschbaren Mehrwegbinden sind nicht nur umweltschonend, wie die angehenden Friseurinnen erfahren, sondern auch sehr hygienisch, dank der verschiedenen Stofflagen. Jede schnappt sich eine Schere und beginnt nach der Vorlage die Bindenteile auszuschneiden. Ein bisschen ist die Erleichterung zu spüren, dass das Tabuthema Sexualität nun erst einmal abgeschlossen ist.
Schneiden, ausmessen, zusammenlegen und mit Nadeln sichern. Dann geht’s ans Nähen. Hermione zeigt, wie es geht: Schön gleichmäßig an den Seiten nähen, dann die Rundungen. Viele der jungen Frauen sind geschickt beim Nähen. Sie helfen sich gegenseitig. Am Schluss sind nicht alle Binden fertig geworden, trotzdem muss die 24-jährige Mitarbeiterin von Apessa ihre Nähmaschinen wieder einpacken. Sie rät den Mädchen, die restlichen Nähte beim Schneider machen zu lassen. Selbst das ist günstiger, als Einwegbinden zu kaufen.
Für Hermione Quenum war es ein langer Tag. Rund sechs Stunden hat sie in dem Friseursalon verbracht, die Fahrt nach Hause dauert noch einmal drei Stunden. Doch obwohl der Tag sehr anstrengend war, bleibt sie fröhlich. „Ich liebe meinen Job. Ich erkläre gerne Dinge, die mich begeistern, und mache das mit Leidenschaft, weil ich weiß dass ich etwas zurückgeben kann.“
Lahanatou Bio Mama, Hebamme
Eine so intensive und öffentliche Debatte über Verhütung, Regelblutung und Sexualität wünscht sich auch Hebamme Lahanatou Bio Mama, die in der Stadt Parakou im Norden Benins lebt. Die Stadt ist muslimisch geprägt. Menschen leben von der Landwirtschaft. Frauen verkaufen auf Märkten Gemüse und Obst sowie Gegenstände des alltäglichen Bedarfs: Zahnpasta, Seife, Waschmittel, manchmal Plastikschüsseln. Doch manche haben nicht mal 1.000 CFA – umgerechnet 1,50 Euro – übrig. So viel kostet die Dreimonatsspritze, wie im Wartezimmer ihrer Privatklinik „Beau Bebe“, einer Mischung aus gynäkologischer und Kinderarztpraxis, auf der Preisliste zu lesen ist.
Lahanatou Bio Mama kämpft seit Jahrzehnten für Familienplanung und sexuelle Aufklärung. In Benin ist die Geburtenrate in den vergangenen Jahren zwar deutlich gesunken. Trotzdem bekommt jede Frau statistisch gesehen weiterhin 5,3 Kinder, und der Bevölkerungsanstieg ist hoch. Benin liegt im weltweiten auf Platz sieben und wächst jährlich um 3,3 Prozent. Der Hebamme geht es bei ihrer Arbeit rund um die geplante Familie aber nicht um Statistiken: „Es geht um die Gesundheit von Mutter und Kind.“
Am Samstagmorgen ist das Wartezimmer leer. Eigentlich hätte eine Patientin einen Termin für ihre Dreimontagsspritze gehabt. Doch sie hat ihn nicht einmal abgesagt, was häufiger passiert. „Frauen schämen sich, weil ihnen das Geld fehlt.“
Eine Patientin kommt dann doch noch. Angelle Adjedemim trägt ihre eineinhalbjährige Tochter Oussomiatou auf dem Rücken, während der fünfjährige Sohn zu Hause geblieben ist. Auch ihr Termin ist längst überfällig. Dabei ist ihr eins klar. Im Moment möchte sie nicht schwanger werden. Sie sitzt der Hebamme gegenüber und erklärt: „Wenn man schnell nach der Geburt wieder schwanger wird, birgt das Probleme. Man kann das Kind nicht richtig stillen.“
Vor allem hat sie aber Angst, im Moment nicht genügend Geld für ein weiteres Kind zu haben. In Benin sind die staatlichen Schulen zwar gebührenfrei. Doch wer es sich leisten kann, schickt den Nachwuchs auf eine Privatschule, die Geld kostet. Auch Krankheitsfälle stellen Familien vor Herausforderungen. Eine Krankenversicherung haben höchstens Menschen, die angestellt sind. Laut Weltbank sind rund 90 Prozent im informellen Sektor beschäftigt. „Wir wollen unseren Kindern auch etwas bieten können“, sagt Adjedemim. Zwei bis drei weitere sollen es trotzdem noch werden.
Dass Sexualität und Verhütung so lange Tabuthemen geblieben sind, begründet Lahanatou Bio Mama mit Vorurteilen und Klischees. Als sie in den 1990er Jahren anfing, nicht nur in Parakou, sondern auch in den Dörfern darüber zu sprechen, sagten Männer: „Wenn wir unseren Frauen Verhütung erlauben, werden sie untreu. Wir können nicht mehr kontrollieren, von wem die Kinder stammen“, erinnert sie sich. Die Vorurteile werden weniger. Doch bis heute haben junge Frauen Schwierigkeiten, wenn sie Kondome kaufen, obwohl diese überall verfügbar sind. Sie werden als Prostituierte abgestempelt.
Über Sexualität zu sprechen sei richtig, sagt Hebamme Lahanatou Bio Mama. Eine generelle Verbesserung bringt aber nur eins: „Verhütungsmethoden müssen endlich kostenfrei werden, in privaten wie öffentlichen Krankenhäusern und Kliniken.“
Hinweis: Dieser Artikel ist im Rahmen des Medienpreises „Weltbevölkerung“ der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung (DSW) entstanden. Die DSW finanziert Recherchereisen nach Afrika südlich der Sahara zu den Themen Bevölkerungsentwicklung, globale Gesundheit und Geschlechter(un)gerechtigkeit.
Andrea Wojtkowiak und Katrin Gänsler gehören zu den diesjährigen Preisträger:innen. Sie wurden für ihre hier stehende Arbeit zu Sexualität, Aufklärung, Familienplanung in Benin ausgezeichnet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Waffen für die Ukraine
Bidens Taktik, Scholz’ Chance
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist