piwik no script img

Dokumentarfilm „Miss Holocaust Survivor“Darf man das?

In einem Seniorenheim für Überlebende des Holocaust in Haifa wird die „Miss Holocaust Survivor“ gewählt. Radek Wegrzyn hat einen Film darüber gedreht.

Irgendwann läuft auch Gloria Gaynors Song „I will survive“: Szene aus „Miss Holocaust Survivor“ Foto: Farbfilm Verleih

Darf man das? Ist es nicht obszön, einen Schönheitswettbewerb mit Frauen zu veranstalten, die den Holocaust überlebt haben? Ist es nicht eine Anmaßung, sie zu bewerten und eine von ihnen als Gewinnerin zu präsentieren? Und darf man dann einen Film darüber machen?

Tatsächlich wird solch eine Schönheitskönigin seit 2012 unter den Bewohnerinnen eines Altersheims für Holocaust-Überlebende in Haifa auserkoren. Als der in Hannover lebende und arbeitende Filmemacher Radek Wegrzyn davon erfuhr, war er erstaunt darüber, dass noch niemand vor ihm über diese bemerkenswerte Veranstaltung einen Film gedreht hatte.

Natürlich macht gerade die Provokation diese Geschichte interessant. Aber Wegrzyn war so klug, sich nicht auf das Spektakel zu konzentrieren. Er zeigt zwar über die 89 Minuten des Films verstreut immer wieder Aufnahmen von den Proben, bei denen den Frauen im Alter zwischen 75 und 95 Jahren von einer Veranstalterin in einem recht herrischen Ton beigebracht wird, wie sie sich möglichst elegant auf der Bühne bewegen sollen. Aber viel wichtiger ist es für ihn, zwei der Teilnehmerinnen zu porträtieren und von ihrem Leben erzählen zu lassen. Tova ist 95 Jahre alt und geht jeden Tag ins Fitnessstudio. Rita arbeitet als Malerin. Sie hat ein Buch über ihren Überlebenskampf im Nazideutschland geschrieben.

Beide Frauen strahlen eine beeindruckende Souveränität und Lebensfreude aus. Die Frage, ob sie bei der Misswahl zu Schauobjekten degradiert werden, stellt sich bei ihnen so gar nicht. Da ergibt dann auch das plakativ klingende Motto einen Sinn, dass es hier nicht „um äußere, sondern um innere Schönheit“ gehe. Die beiden genießen die Veranstaltung sichtlich und sehen sie vor allem als eine willkommene Abwechslung vom Leben im Altersheim.

Die Frauen strahlen eine beeindruckende Souveränität und Lebensfreude aus

Dieses Heim wird von einer Gruppe evangelikaler Christen finanziert, auch das ist umstritten: Ist die Misswahl nicht vor allem eine Propagandaveranstaltung für diese religiöse Organisation? ­Wegrzyn urteilt nicht, aber wenn er zeigt, wie Chris­t*in­nen von den Philippinen und aus Mexiko nach Haifa zu diesem Altersheim pilgern, wirken diese Aufnahmen sehr befremdlich. Zugleich macht er eine Gegenrechnung auf, deren Logik schwer zu widerlegen ist: Über ein Viertel der Holocaust-Überlebenden in Israel lebt heute unterhalb der Armutsgrenze, und das Heim bietet einigen von ­ihnen die Möglichkeit, ohne finanzielle Sorgen ihren Lebensabend zu verbringen.

Ähnlich schlüssig ist auch ­Wegrzyns Antwort darauf, ob diese Misswahl überhaupt veranstaltet werden sollte. Für ihn sind die Frauen selbst „die einzige Instanz“, die darüber entscheiden kann. Und wenn sein Film zeigt, wie wohl sie sich dabei fühlen, in ihrem Alter noch solch ein Abenteuer zu erleben, ist auch dies eine Antwort.

Doch Wegrzyn geht noch tiefer, wenn er Tova und Rita dazu bringt zu erzählen, wie sie den Holocaust überlebt haben. Tova hat in Auschwitz Misshandlungen und Vergewaltigungen ertragen müssen und auch mit 95 Jahren ringt sie mit der Fassung, wenn sie davon erzählt. Rita hingegen hat ein Buch darüber geschrieben, wie sie sich mit ihrer Familie 19 Monate lang in einem engen Erdloch versteckt hat.

Wegrzyn selbst liest Auszüge aus diesem Text. Im Lüßwald in der Lüneburger Heide sowie in einem Studio in Hannover hat er einige Spielszenen inszeniert, mit denen er zeigen wollte, wie extrem dieses Leben für die damals achtjährige Rita gewesen sein muss.

Der Film

„Miss Holocaust Survivor“, Regie: Radek Wegrzyn, mit Tova Ringer, Rita Kasimov-Brown und anderen, Deutschland 2023, 89 Minuten

Diese Spielszenen sind angemessen diskret inszeniert. Es sind Stimmungsbilder, bei denen das Gesicht der Darstellerin nicht gezeigt wird. Und auch die Filmmusik von Franziska Pohlmann ist zurückhaltend und gerade deshalb sehr effektiv.

Alles andere als subtil ist dagegen der Disco-Song „I will survive“ von Gloria Gaynor, der bei den Filmsequenzen von der Preisverleihung erklingt. Aber hier dokumentiert Wegrzyn nur die Atmosphäre, die bei der Gala herrschte – und an dem Abend waren alle Damen von dem Song begeistert.

Und was denkt Wegrzyn darüber, dass sein Film gerade jetzt in die Kinos kommt? Er glaubt, es sei genau die richtige Zeit dafür, denn für ihn ist es eine der Qualitäten eines Kinofilms, dass er „Empathie“ kann. Und das ist gerade jetzt besonders wichtig.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

2 Kommentare

 / 
  • "Dokumentarfilm „Miss Holocaust Survivor“



    Darf man das?"



    Da es meines Wissens kein Gesetz dagegen gibt: Ja darf man. Ganz offensichtlich.



    Weiter gibt es dazu nichts zu sagen.

  • Natürlich darf man. Wer soll es denn verbieten? Oder, wichtiger noch, wer soll es erlauben? Die Wirklichkeit des Gezeigten ist doch wohl unbestritten, die Würde geben sich die Menschen selber.



    Vor bald 20 Jahren gab es einen wunderbaren Film "Cemetery Club", über eine Gruppe von Holocaust- Überlebenden, die sich jedem Samstag auf Mount Herzl- Friedhof treffen. Der Clou: die Menschen waren keineswegs alle sympathisch, sie waren kleinlich, streitsüchtig, empfindlich, und zwar untereinander. Sie waren wirklich und nicht die netten Opfer, die man wohl überwiegend erwartet hatte.