Krieg in der Ukraine: Im Schatten von Gaza

Die öffentliche Aufmerksamkeit schwenkt weg vom Krieg in der Ukraine. Im Schatten von Gaza darf das Engagement aber auf keinen Fall nachlassen.

Illustration: Katja Gendikova

Seit dem Terrorangriff der islamistischen Hamas auf Israel und dem Massaker mit 1.400 Todesopfern dominiert der Nahe Osten die öffentliche Debatte in den westlichen Ländern. Auch in Deutschland. Angesichts der Dimension des Terrors und der Befürchtung, dass andere aggressive Akteure wie die Hisbollah oder der Iran eingreifen, ist das nachvollziehbar. In der Ukraine und unter ihren Unterstützern wächst dennoch die Sorge, aus dem Blick zu geraten.

Natürlich ist der individuelle Aufmerksamkeitsvorrat begrenzt. Deshalb wird bewusst oder unbewusst priorisiert. Was neu ist, unbekannt oder bedrohlich, wird erst mal mehr beachtet. Es wird schneller reagiert, wenn etwas kurzfristigen Handlungsbedarf herausfordert. Langfristige, strategische Fragen verschiebt man eher.

Erkennbar ist das an der medialen Vermittlung. Es kann eben nur ein Thema geben, das als Erstes in der „Tagesschau“ behandelt wird, Zeitungen haben einen begrenzten Umfang. Und selbst wenn Seiten oder Sendezeit unbegrenzt wären: Wer sollte das alles konsumieren? Tatsächlich hat die Aufmerksamkeit für Russlands Krieg gegen die Ukraine auch schon vor dem Hamas-Angriff auf Israel nachgelassen.

Ein Text im jüngsten Time Magazine beschreibt Wolodimir Selenskis Besuch in Washington im September. Er zeichnet das Bild eines ermatteten ukrainischen Präsidenten, der sich mit Kriegsmüdigkeit in Partnerländern konfrontiert sieht. Hört man sich unter Ukrai­ne­r:in­nen um, sind sie nicht überrascht. Sie wissen, dass Menschen in den EU-Ländern und erst recht in den USA weit weg sind von Bombardierungen und Luftalarmen und dass der Alltag dort weitergeht.

Vom Sondervermögen ist noch nichts zu merken

Klar ist in der Ukraine aber auch, dass man keine Alternative zur Selbstverteidigung hat, egal wie viel oder wenig Unterstützung aus dem Westen kommt. Eine breite Mehrheit lehnt territo­ria­le Zugeständnisse für einen potenziellen Waffenstillstand ab. Denn es geht nicht um Quadratkilometer, sondern um Menschen. Jeder kennt die Verbrechen, die Russland in Butscha, Isjum und vielen weiteren Orten verübt hat und weiterhin verübt.

Putin negiert die Existenz der Ukraine und der Ukrai­ne­r:in­nen, und seine Helfer setzten das physisch um, wo sie nur können. Je länger es dauert, sie zu stoppen, desto mehr Menschen sterben. Mit Blick auf den Westen stellt sich die Frage: Sind die USA und Europa in der Lage und willens, auf zwei Krisenherde adäquat zu reagieren, wo sie doch schon mit einem Schwierigkeiten hatten? Die Rückschau legt nahe, dass Zweifel nicht unberechtigt sind.

Schließlich hat man sich im Vorlauf der russischen Invasion 2022 ein Ausmaß an Wunschdenken und Blindheit geleistet, das zu erklären eine schöne Aufgabe für die His­to­ri­ke­r:in­nen sein dürfte. Das gilt besonders für Deutschland, das die Krimannexion noch mit einem milliardenschweren Pipelineprojekt belohnte.

Vor 20 Monaten, unmittelbar nach Beginn der groß angelegten Invasion Russlands in der Ukraine, hat Bundeskanzler Olaf Scholz von einer Zeitenwende gesprochen. Je mehr Zeit vergeht, desto eher wirkt das wie eine Phrase. Zwar wurde für die Ausrüstung der Bundeswehr das sogenannte Sondervermögen beschlossen. Bei der Truppe angekommen ist davon allerdings noch nichts. Und in der Etatplanung ist das 2-Prozent-Ziel der Nato nicht gesichert.

Zögerliches Abwägen

In Bezug auf die Unterstützung der Ukraine ist aus Berlin immer „So lange wie nötig“ zu hören. Man stehe zur territorialen Integrität der Ukraine. Praktisch wird dann bei jeder Waffenlieferung monatelang diskutiert, obwohl der Bedarf offensichtlich ist. Der Argumentationskreislauf ähnelt sich dabei: Erst befürchtet man eine nicht näher beschriebene Eskalation, dann hat man angeblich selbst nicht genug, dann dauert die Ausbildung der Ukrainer an den komplizierten deutschen Waffen zu lange.

Und schließlich heißt es, man wolle nur zusammen mit Verbündeten liefern. Jüngstes Beispiel ist die Taurus-Debatte. Der Marschflugkörper aus schwedisch-deutscher Entwicklung ist dem französisch-britischen Storm Shadow ähnlich, der bereits seit Monaten von der Ukraine gegen hochwertige Ziele der russischen Armee eingesetzt wird – nicht gegen Ziele in Russland selbst.

Taurus wäre dank seiner Reichweite und Funktionsweise ideal, um die Krimbrücke anzugreifen und damit der russischen Armee im Süden ein riesiges Logistikproblem zu bereiten. Doch Berlin liefert nicht. Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) begründet das Zögern damit, dass Taurus eben so besonders wirksam ist. Entschlossen wirkt das alles kaum.

Umgekehrt ist aber auch nicht ausgemacht, dass der Westen versagt. Das Ausmaß der politischen, wirtschaftlichen und nicht zuletzt militärischen Unterstützung für die Ukraine trotz aller Unterschiede in der eigenen Betroffenheit und der früheren Bewertung der russischen Aggression zeigt, was die westlichen Länder zusammen leisten können.

Tempo und Umfang sind entscheidend

Deutschland ist nach den USA inzwischen der zweitgrößte Lieferant von Rüstungsgütern an die Ukraine. Mit Blick auf die anfänglich gelieferten 5.000 Helme erscheint das als weiter Weg. Allerdings ist Deutschland auch mit seiner Wirtschaftsleistung das zweitgrößte Nato-Land. Und gerade kleinere Länder wie die baltischen tun relativ gesehen deutlich mehr. Im zivilen Bereich ist die Bedeutung Deutschlands größer. Das weiß man bei aller Kritik im Detail vor Ort auch durchaus zu schätzen.

Die EU hat sich verpflichtet, bis März eine Million Artilleriegeschosse an die Ukraine zu liefern. Bisher hinkt man bei der Erfüllung hinterher, aber es bewegt sich etwas. Entscheidungen werden getroffen, und die Richtung ist klar. Nur spielen Tempo und Quantität auch eine wichtige Rolle. Viele der Waffensysteme, die die ukrainische Armee im Laufe dieses Jahres erhalten hat und noch erhalten wird, hätte sie früher schon gut gebrauchen können.

Die größte politische Unbekannte ist einstweilen Washington. Käme Donald Trump oder ein Nachahmer ins Weiße Haus, wäre die US-amerikanische Unterstützung der Ukraine mehr als in Gefahr. Allerdings gibt es in beiden Parteien in den USA bisher eine Mehrheit für die Ukraine. Wie stabil diese ist, wird sich möglicherweise bald zeigen: Die Wahl des Trump nahestehenden Mike ­Johnson zum Vorsitzenden des Repräsentantenhauses ist kein gutes Zeichen.

Als eine der ersten Amtshandlungen hat er mitgeteilt, dass die Hilfen für die Ukraine und Israel getrennt voneinander bearbeitet werden. Präsident Joe Biden wollte das 106 Milliarden-Dollar-Paket für beide gemeinsam zur Abstimmung stellen. Aber auch in Europa zeigen sich Risse. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán setzt seine Vetomacht in der EU ein, um Hilfszahlungen zu verzögern und Sanktionen aufzuweichen.

Mit dem Populisten Robert Fico ist seit Kurzem auch in der Slowakei ein Politiker an der Macht, der sich gegen Waffenlieferungen an die Ukraine posi­tio­niert. Angesichts hoher Umfragewerte für kremlnahe Parteien in mehreren großen EU-Ländern ist keine Überheblichkeit beim Blick über den Atlantik angebracht. Wirtschaftlich dürften die USA und Europa die Kosten der Ukrainehilfe auch weiterhin – und trotz des Kriegs in Nahost – tragen können.

Geld auf dem Papier

Zumal ein großer Teil des Gelds auch in den Ländern bleibt: Wenn beispielsweise Deutschland vor Jahrzehnten gebaute Panzer an die Ukraine liefert, kostet das Geld auf dem Papier. Das Geld für die Ersatzbeschaffung wird aber in Deutschland ausgegeben. Allein die EU und Großbritannien haben eine Wirtschaftsleistung, die mehr als neunmal so hoch ist wie die Russlands. Die finanzielle und industrielle Kapazität der Europäer würde also auch ohne Hilfe aus Übersee ausreichen, um die Ukraine weiterhin zu unterstützen.

Militärisch unterscheiden sich der Krieg in der Ukraine und der im Nahen Osten erheblich. In der Ukraine tobt seit 20 Monaten ein zwischenstaatlicher Krieg zu Land, zur See und in der Luft. Die Länge der Front und die Größe der beteiligten Armeen machen ihn zum größten Krieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Im Nahen Osten hingegen hat es eine moderne, hochgerüstete Armee (bisher) mit einer Terrororganisation zu tun. Die Bedürfnisse der Ukraine und Israels unterscheiden sich dementsprechend.

Viele Waffen, die die Ukraine benötigt, hat Israel bereits oder stellt sie sogar selbst her. In der Luftverteidigung ist Israel technologisch an der Weltspitze. Im Falle länger andauernder Kampfhandlungen oder falls beispielsweise die Hisbollah aus dem Libanon aktiver eingreift, könnte jedoch auch Israel Nachschub an Munition brauchen. Das könnte dann zumindest kurzfristig zulasten der Ukraine gehen.

Wenn weniger Aufmerksamkeit für den Krieg in der Ukraine auch weniger Engagement des Westens bedeutet, wäre das ein schlechte Idee. Denn die Gründe, weshalb man damit angefangen hat, gelten schließlich noch heute. Unterwirft Russland die Ukraine, wäre das nicht nur eine Katastrophe für die Menschen dort. Sondern die Nato hätte ein aggressives Russland an seiner Ostflanke, das gerade einen Eroberungskrieg gewonnen hätte.

Dass die Ambitionen in Moskau mindestens das Baltikum betreffen, aber auch gern mal bis zur Spree reichen, wird in Russland regelmäßig im Fernsehen diskutiert. Gewinnt Russland in der Ukraine Gebiet hinzu, ist das Prinzip territorialer Integrität dahin. Eine solche Welt wäre für alle unsicherer. Will man das verhindern, muss man sich entscheiden, so viel zu helfen, dass Russland nicht mithalten kann. Handelt der Westen konsequent, ist ein bisschen weniger Aufmerksamkeit verkraftbar.

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Jahrgang 1978, ist Autor und CvD der taz und berichtet seit 2011 für mehrere Tageszeitungen über Berlin, Brandenburg und Osteuropa.

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