50 Jahre nach dem Putsch in Chile: Das Ansehen der Diktatur steigt
36 Prozent der Chilenen meinen, mit dem Putsch sei Chile „vom Marxismus befreit“ worden. Und die rechtsextremen Parteien werden immer stärker.
Die politische Situation in Chile hat sich gedreht. „Nach dem Sieg der Gegner der neuen Verfassung im Referendum 2022 habe ich Fotos von Pinochet per WhatsApp zugeschickt bekommen“, berichtet Flor Lazo Maldonado. Sie ist die Präsidentin des Angehörigenverbands von 70 meist gewerkschaftlich organisierten Landarbeitern, die im September und Oktober 1973 in der südlich von Santiago gelegenen Kleinstadt Paine von Militärs entführt und in abgelegenen Andentälern ermordet wurden. Auch ihr Vater, zwei Onkel und zwei ihrer Brüder waren darunter.
Anfang August habe sie bemerkt, dass eine marmorne Gedenktafel mit den Namen von 17 der ermordeten Landarbeiter mit einem Hammer in viele Stücke zerschlagen worden war. „Wir selbst hatten die Tafel an dem Felsen in der Chadaschlucht angebracht“, erklärt sie. „Die Zerstörung ist ein Angriff auf unsere Erinnerungsarbeit.“
Fast 50 Jahre nach dem Militärputsch steigt das Ansehen des früheren Diktators Augusto Pinochet und die Akzeptanz des Putsches nimmt zu. Laut einer Studie des Meinungsforschungsinstituts Mori sagten 36 Prozent der Bevölkerung im März 2023, Chile sei durch den Staatsstreich „vom Marxismus befreit“ worden. 42 Prozent sagen, dass der Putsch „die Demokratie zerstört“ hat.
Nach dem Ende der Diktatur im Jahr 1990 gab es keinen wirklichen Bruch damit. „Der Übergang zur Demokratie wurde nach den Regeln der Verfassung der Diktatur aus dem Jahr 1980 organisiert und hat den Protagonisten der Diktatur weitgehende Macht belassen“, sagt der Historiker Pablo Seguel. So war Augusto Pinochet bis zu seiner Verhaftung in London 1998 Oberbefehlshaber des Heeres und bis 2002 Senator. Er starb 2006, ohne je verurteilt worden zu sein.
Der Text ist am 8. September 2023 als Teil einer achtseitigen Chile-Beilage in der taz erschienen. 50 Jahre ist es her, dass in Chile ein von den USA unterstützter Militärputsch am 11. September 1973 der demokratisch gewählten Regierung des Sozialisten Salvador Allende ein jähes Ende setzte. Mehr als 3.000 Menschen kamen während der folgenden Diktatur (1973 – 1990) ums Leben, noch mehr wurden inhaftiert, gefoltert und ins Exil getrieben. Die taz Panter Stiftung nimmt das Jubiläum zum Anlass, um zusammen mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung und unterstützt von der Stiftung Umverteilen an die damaligen Geschehnisse zu erinnern und zugleich zu fragen, wie die Ereignisse vor 50 Jahren die gesellschaftlichen Verhältnisse von heute beeinflussen. Einige Texte wurden auch auf Spanisch veröffentlicht.
Bewunderung für Pinochet
In ökonomischer Hinsicht setzten die demokratischen Regierungen ab 1990 die neoliberale Politik der Diktatur fort. Zwar geht die Schere zwischen Arm und Reich sehr weit auseinander. Aber in makroökonomischen Zahlen und im lateinamerikanischen Vergleich ist Chiles Wirtschaft stark und stabil. Den Profiteuren dieser Ordnung gilt die Neoliberalisierung als Erfolgsmodell.
„Während der Diktatur entstand eine neue Mittelklasse“, sagt der mit dem chilenischen Preis für Geisteswissenschaften ausgezeichnete Soziologe Tomás Moulian Emparanza. „Aber vor allem entstand eine neue Bourgeoisie, die sich aufgrund der wirtschaftlichen Liberalisierung sehr bereichern konnte.“ Seitdem beherrschen wenige extrem reiche Familienunternehmen den chilenischen Markt.
„Der Rückhalt Pinochets in der Bevölkerung ist seit Ende der Diktatur 1990 nur wenig gesunken“, erklärt Historiker Pablo Seguel. „Mehrere rechte Parteien bezeichnen den Putsch noch immer als gerechtfertigt. Die Republikanische Partei verteidigt den Putsch, die Diktatur und auch diejenigen, die massive Menschenrechtsverletzungen in dieser Zeit begangen haben.“
Luis Silva Irarrázaval von der extrem rechten Republikanischen Partei und Mitglied der einflussreichen, streng konservativen katholischen Vereinigung Opus Dei sagte Ende Mai im chilenischen Fernsehen, er empfinde einen Anflug von Bewunderung für Pinochet, „weil er ein Staatsmann war, ein Mann, der den Staat führen, einen in Stücke zerrissenen Staat wieder aufbauen konnte“.
International gut vernetzte Rechte
„Wäre Pinochet noch am Leben, so würde er mich wählen“, erklärte der Anwalt und Gründer und Kopf der Republikanischen Partei, José Antonio Kast. Sein Vater, ein 1950 nach Chile ausgewanderter Offizier der deutschen Wehrmacht und NSDAP-Mitglied, und sein Bruder Christian Kast sollen nach dem Putsch 1973 an Repressionsmaßnahmen des Militärs gegen Arbeiter des Familienunternehmens – einer Wurstfabrik und Restaurantkette in der Kleinstadt Paine – mitgewirkt haben. Ökonomisch profitierte die Familie Kast von der Diktatur und verfügt über weitreichende Rechte an dem in Chile knappen Gut Wasser.
International sind die Republikaner gut vernetzt mit Partnern aus dem Umfeld von Trump in den USA, VOX in Spanien, Orbán in Ungarn, Bolsonaro in Brasilien. Seit 2022 ist Kast Vorsitzender des Political Network for Values, das regelmäßig internationale Konferenzen mit diesen strategischen Partnern organisiert.
Bei der Wahl zum Verfassungsrat, der einen zweiten Aufschlag für eine neue Verfassung schreiben soll, nachdem der erste Vorschlag 2022 in einem Referendum abgelehnt wurde, hat die Republikanische Partei im Mai mit 35 Prozent der Stimmen am besten abgeschnitten. Zusammen mit der traditionellen Rechten halten sie eine Zweidrittelmehrheit und können den Inhalt des Verfassungsentwurfs gegen jedes Veto absichern.
Die Republikaner wollen in einer neuen Verfassung alle Bürger:innen verpflichten, „die Werte der chilenischen Tradition zu ehren“. Sie wollen Abtreibung verbieten und auch die aktuell gültigen drei Ausnahmeregeln bei Gefahr für Leib und Leben der Frau oder des Fötus sowie nach einer Vergewaltigung abschaffen.
Besonders umstritten ist der Antrag der Republikaner, demzufolge über 75-jährige oder gebrechliche Häftlinge ihre Strafe zu Hause verbringen können sollen. „Die meisten Gefängnisinsassen diesen Alters sind wegen Diktaturverbrechen verurteilt“, empört sich Flor Lazo, die Vertreterin der ermordeten Landarbeiter aus Paine. Menschenrechtsgruppen laufen Sturm dagegen, und Teile der Linken kündigen bereits an, den neuen Verfassungsentwurf im Dezember abzulehnen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kritik am Deutschen Ethikrat
Bisschen viel Gott
Menschenrechtsverletzungen durch Israel
„So kann man Terror nicht bekämpfen“
Trumps Krieg gegen die Forschung
Bye-bye, Wissenschaftsfreiheit!
Altvordere sollen Linke retten
Hoffen auf die „Silberlocken“
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Habeck vor der Bundestagswahl
Friede, Freude, Wahlkampf