50 Jahre Putsch in Chile: Protokolle vom 11. September 1973

Sie wurden verhaftet, gefoltert, galten als verschwunden. Vier Menschen erzählen, wie sie den Putsch erlebten.

Menschen liegen auf dem Boden, daneben ein bewaffneter Soldat

Helfer und Mitglieder des Präsidiums des ehemaligen Präsidenten Allende werden während des Putschs in Santiago von Soldaten vor dem Präsidentenpalast bewacht, 11. September 1973 Foto: reuters

Lelia Pérez, ehemaliges MIR-Mitglied: Gefoltert im Stadion und in der Villa Grimaldi

Ich sehe mich als Überlebende, nicht als Opfer. Als der Putsch kam, war ich 16 Jahre alt und Mitglied der Linken Revolutionären Bewegung (MIR). Ich schrieb an dem Tag eine Klassenarbeit in der Schule und war nervös, weil ich nicht gelernt hatte.

Der Unterricht wurde unterbrochen und wir hörten im Radio die letzte Rede des Präsidenten Allende. Er verabschiedete sich. Wir sahen von einem Turm des Schulgebäudes zu, wie die Luftwaffe das Regierungsgebäude La Moneda bombardierte. Einige meiner Klassenkameraden waren Kinder von Parlamentariern und von Politikern, die mit dem Präsidenten im Regierungsgebäude waren. Als wir die Schule verließen, war die Hauptstraße Alameda voll mit Soldaten. Es gab keine Busse, keinen Transport. Wir hörten Schüsse, Sirenen und Helikopter.

Keine 24 Stunden später wurde ich verhaftet. Die Carabineros zwangen uns, uns mit dem Gesicht nach unten auf die Straße zu legen, die Hände nach oben gestreckt. Sie liefen über uns drüber und schlugen auf uns ein. In diesem Moment erfuhr ich, dass der Präsident tot war.

Der Text ist am 8. September 2023 als Teil einer achtseitigen Chile-Beilage in der taz erschienen. 50 Jahre ist es her, dass in Chile ein von den USA unterstützter Militärputsch am 11. September 1973 der demokratisch gewählten Regierung des Sozialisten Salvador Allende ein jähes Ende setzte. Mehr als 3.000 Menschen kamen während der folgenden Diktatur (1973 – 1990) ums Leben, noch mehr wurden inhaftiert, gefoltert und ins Exil getrieben. Die taz Panter Stiftung nimmt das Jubiläum zum Anlass, um zusammen mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung und unterstützt von der Stiftung Umverteilen an die damaligen Geschehnisse zu erinnern und zugleich zu fragen, wie die Ereignisse vor 50 Jahren die gesellschaftlichen Verhältnisse von heute beeinflussen. Einige Texte wurden auch auf Spanisch veröffentlicht.

Sie brachten mich ins Nationalstadion, das heute Estadio Víctor Jara heißt. Als ich das Stadion betrat, überschritt ich die Schwelle ins Unbekannte. Ich zitterte am ganzen Körper. Insgesamt war ich drei Tage dort. Ich hatte kein Zeitgefühl, denn sie hatten uns die Uhren weggenommen. Sie experimentierten an uns und probierten ihre Foltermethoden aus. Als sie mich frei ließen, halfen mir Prostituierte, denn in der Nähe war ein Bordell. Sie wuschen mich, gaben mir Kleidung und Geld für den Bus. Ich ging nach Hause.

Ich beendete die Schule und betätigte mich weiter politisch im Untergrund. Viele gingen ins Exil, aber die MIR vertrat eine Anti-Exil-Politik. Ich half denen, die sich verstecken mussten, ich brachte sie von einem Ort zum anderen, um ihr Leben zu retten. Wir lebten in ständiger Angst.

Im Oktober 1975 wurde ich zum zweiten Mal verhaftet, diesmal von der DINA, Pinochets Geheimpolizei. Sie brachten mich in die Villa Grimaldi. Dort wurde ich gefoltert und verhört. Meine Familie suchte mich, für sie war ich eine Verschwundene. Im Dezember brachten sie mich ins Konzentrationslager Tres Álamos, wo ich bis September 1976 gefangen war. Als sie mich freiließen, richteten sie ein Gewehr auf mich und sagten: Du hast 30 Tage Zeit, um das Land zu verlassen.

Protokoll: Sophia Boddenberg

Sibylle Riedmiller, Helferin mit Diplomatenpass: Unter Folter verraten

Kurz nach dem Putsch kam ich mit einem Unesco-Job nach Chile, als Mitglied des Berliner Chile-Komitees meine erste Wahl – wegen Allende. Meinen Vertrag unterschrieb ich im August 1973, für Ausreise im Oktober, im September kam dann der Putsch. Ich hätte kündigen können, aber das Chile-Komitee brauchte Leute, die in Chile noch unbekannt waren. Ein guter Freund, Rolf Rosenbrock, kam auch, wir wohnten ein Jahr lang zusammen und spielten zur Tarnung ein Paar. Das Ehepaar Paas lernte ich dort kennen – zusammen nannte man uns im Untergrund die „4 Alemanes“.

Leben in Chile nach dem Putsch bedeutete Ausgangssperre, die nächtliche Grabesstille unterbrochen von Schüssen, Hubschrauber flogen niedrig über die Dächer, im Büro am nächsten Tag Einschusslöcher an den Wänden, im Mapocho-Fluss Leichen, die von Anrainern heimlich am Ufer begraben wurden.

Die ersten Monate arbeiteten wir vor allem als Fluchthelfer für Amnesty International mit dem damaligen (im Gegensatz zu seinem Nachfolger) humanitär engagierten deutschen Botschafter. Er organisierte zum Beispiel Empfänge, wo wir bedrohte Chilenen fein gekleidet im Auto mitbrachten. Das Militär bewachte den Eingang, merkte aber nicht, wenn hinterher weniger Leute rauskamen. In der Residenz lebten bald bis zu 80 Chilenen mit dem Botschafter in einer großen Wohngemeinschaft, die Matratzen stapelten sich in der Eingangshalle bis an die Decke.

Wir arbeiteten auch eng mit der deutschen Presse. Rolf ­Pflücke, ein Studienfreund und Lateinamerika-Korrespondent deutscher Sender, war sehr an Lageberichten, Kontakten und Zeugenaussagen interessiert, die wir liefern konnten. Seine eindrücklichen Reportagen für die „Tagesschau“ und politischen Magazine sind heute im Erinnerungsmuseum in Santiago zu sehen.

Mein Job erforderte Auslandsreisen, ideal für Kurierdienste für den chilenischen Untergrund. Im Unesco-Büro wusste niemand davon, viele chilenische Kollegen waren Anhänger der Junta, und der UN-Arbeitsvertrag verpflichtete zu politischer Neutralität.

Nach fast zwei Jahren flog ich auf. Ich hatte für den Generalsekretär der Sozialisten Geld nach Chile geschmuggelt, 45.000 Dollar. Am Treffpunkt für die Übergabe überfielen mich vier Agenten des Geheimdienstes. Sie sprangen zu mir ins Auto, zogen mir eine Kapuze über, hielten mir eine Knarre an den Kopf, griffen sich das Geld und wir fuhren aus der Stadt. Mitten in der Wüste ließen sie mich stehen, es ging ihnen offenbar nur ums Geld, mein Diplomatenpass half auch.

Hinterher hörte ich, dass der Generalsekretär inzwischen verhaftet worden war und mich wohl unter Folter verraten hatte. Ich musste sofort ausreisen. Jahrzehnte später erfuhren wir, dass er mit vielen uns bekannten Chilenen in der deutschen Sektenkolonie Colonia Dignidad unter Folter umgebracht wurde. Protokoll: Martin Kaluza

Svenja Berg*, Stipendiatin in Valparaiso: Als „Kommunistin“ verdächtigt

Nach meinem Studienabschluss reiste ich mit einem Stipendium nach Chile. Am Tag des Militärputsches war ich in einem Dorf nördlich der Hafenstadt Valparaiso. Zwei einschneidende Erfahrungen prägten die nächste Zeit: 1. Der völlige Zusammenbruch von bisher gültigen Regeln. 2. Die Erfahrung von brutaler Willkür und Gewalt.

Am Tag des Putsches schien alles Leben wie erstarrt! Alle Ausländer mussten sich umgehend bei der Polizei melden. Ich zeigte dort meinen Pass aus der Bundesrepublik. Auf die Frage des Polizisten, wo ich leben würde, sagte ich: In Berlin. Sofort konterte er: „Comunista!“ und ich wurde festgehalten! Ich versuchte, ihn auf die geteilte Stadt Berlin hinzuweisen – kein Erfolg! Mein Pass wurde beschlagnahmt. Man fuhr mich ins Hotel, um dort mein Zimmer zu durchsuchen. Als man mein Buch von Klaus Eßer fand – „Durch freie Wahlen zum Sozialismus oder Chiles Weg aus der Armut“–, war für sie endgültig klar, dass ich „Comunista“ sei …

Am nächsten Tag wurde ich zum Hafen von Valparaiso gebracht und auf dem Schiff „Esmeralda“ abgesetzt, unter dessen Deck bereits viele Männer zusammengepfercht lagen. Immer wieder wurde ein Gefangener brutal zusammengeschlagen. Soldaten trieben ihn im Laufschritt zu einer Tür und stießen ihn eine steile Eisentreppe hinunter, die er schreiend auf den Rippen hinabrutschte.

Wir hörten oft, wie gefoltert wurde: In die dumpfen Geräusche der getretenen Körper und die Schreie stimmten die Soldaten mit Gebrüll ein. Irgendwann wurden die Gefangenen zurückgebracht und wimmernd auf eine Matratze gestoßen. Ich sah Männer, deren Kleidung am Rücken blutig und zerrissen und das rohe Fleisch zu sehen war. Das ging die folgenden Nächte so weiter. Die Tochter eines Abgeordneten wurde ebenfalls heftig gefoltert. Ich kam mit ein paar Tritten und Schlägen mit dem Gewehrkolben davon.

Am fünften Tag wurden alle gefangenen Frauen zum Schiff „Lebu“ gebracht und dort in einer winzigen Kabine zusammengepfercht. Tagelang mussten wir schweigen. Wenn jemand mit verbundenen Augen zum Verhör weggebracht wurde, hörten wir durch das Röhrensystem des Schiffes verzweifelte Schreie. Wenn die Frauen irgendwann zurückkamen, waren sie vor Angst erstarrt oder weinten heftig. – Nach elf Tagen wurde ich durch Intervention der Deutschen Botschaft befreit.

*Name geändert (d. Red.) Protokoll: Martin Kaluza

Amaro Labra, Gründer der Band Sol y Lluvia: Mit verbundenen Augen von Carabineros verschleppt

Der Tag des Putsches war seltsam. Die Waffen, über die der bewaffnete Widerstand angeblich verfügte, existierten nicht. Ich beschloss, in mein Viertel Vicente Navarrete zu gehen. Ich war der Meinung, dass wir aufklären mussten. Mein Bruder Charles und ich beschlossen, dass Musik, Bilder und Worte die Mittel waren, mit denen wir uns politisch engagieren wollten. 1978 gründeten wir die Musikgruppe Sol y Lluvia (Sonne und Regen). Wir gingen zu den Protesten und brachten viele Menschen durch die Musik zusammen. Unsere Trommel markierte den Beginn der Protestmärsche. In den Vierteln entstand eine Widerstandsbewegung, zu der die Musik und auch die ollas comunes, die Gemeinschaftskochtöpfe, gehörten. 1978 war ich in Hornos de Lonquén, als dort die Überreste von verschwundenen Gefangenen gefunden wurden. Zum ersten Mal gab es einen Beweis dafür, dass sie existierten. Daraufhin schrieb ich ein Lied mit dem Titel „Lonquén“. Dieses Lied zeigt, was unsere Musik war: Ein rhythmisches Spiel, das fröhlich wirkte, aber in Wirklichkeit eine Anklage war. Wir spielten in vielen Stadtvierteln, bei Gewerkschaften und an den Universitäten. Das Militär und die Polizei versuchten, die Leute davon abzuhalten, zu den Konzerten zu gehen, aber sie gingen trotzdem hin. Ich glaube, die Kultur war ein starker Widerstand gegen die Diktatur.

Wir hatten das Gefühl, in einem ständigen Gefängnis zu sein. An einem 11. September während der Diktatur gingen wir mit meinem Bruder los, um Plakate aufzuhängen, und wurden von den Carabineros verhaftet. Sie brachten uns auf eine Polizeistation, wo sie uns nackt auszogen. Dann wurden wir mit verbundenen Augen an einen anderen Ort verschleppt. Ich weiß bis heute nicht, wohin. Dort waren wir zwei Tage lang. Mein Bruder sagt, dass sie Elektroschocks angewandt haben. Ich kann mich an nichts erinnern.

Nach zwei Tagen haben sie uns mit verbundenen Augen und gefesselt auf die Straße gesetzt. Wir dachten, sie würden uns erschießen. Aber sie hatten uns direkt neben unserem Haus freigelassen.

Wir machten weiter Musik. Als wir bei den Konzerten das Lied „Adiós General“ sangen, erschraken die Leute zuerst. Aber dann sprangen sie auf und ab und sangen mit. Bis heute wird das Lied auf Demonstrationen gesungen. Mir persönlich wäre es lieber, wenn es nicht mehr gesungen werden müsste. Die Tatsache, dass immer noch die gleichen Lieder gesungen werden, zeigt, dass es keine tiefgreifende Veränderung gegeben hat.

Protokoll: Sophia Boddenberg

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