piwik no script img

Binnenflüchtlinge in der UkraineIn Zeiten, in denen Hilfe abnimmt

Seit Kriegsbeginn sind Millionen Ukrainer als Binnenflüchtlinge im Land verteilt. Viele von ihnen hoffen, bald wieder nach Hause zu können.

Kicken weit weg von der Heimat: Alltagsszene im Zentrum für Binnenflüchtlinge in Uschhorod Foto: Michal Burza/imago

Den Krieg, der seit anderthalb Jahren im Land tobt, bemerkt man im westukrainischen Uschhorod erst auf den zweiten Blick. Vielleicht auch erst auf den dritten. Die beschauliche Stadt liegt direkt an der Grenze zur Slowakei, nach Ungarn sind es keine 30 Kilometer. Luftangriffe hat es hier noch keine gegeben. Die meisten Häuser aus Habsburger Zeiten im Stadtzentrum sind renoviert, die sauberen Straßen von bunten Blumenrabatten gesäumt.

Doch schaut man näher hin, ist auch in dieser scheinbaren Idylle der Krieg präsent. In der ganzen Stadt werben große Plakate für die Armee. Auf der Eingangstür des Hotels weist ein Aufkleber darauf hin, wer hier nicht willkommen ist: In einem rot umrandeten Kreis sieht man ein Schwein in den Farben der russischen Flagge – es ist durchgestrichen. Ein Schild an der Rezeption weist den Weg zum Luftschutzraum in der ehemaligen Kellerbar.

Bis 1918 gehörte Uschhorod zur Habsburger Monarchie. Nach deren Zerfall zur neu gegründeten Tschechoslowakei, ab 1938 zu Ungarn. Erst 1944 fiel die Stadt an die Sowjetunion. Bis heute leben hier neben Ukrainern auch Russen, Ungarn, Slowaken und Roma, viele Einwohner haben neben dem ukrainischen auch einen ungarischen Pass. 116.000 Menschen lebten in der Stadt. Bis zum Beginn des russischen Großangriffs auf die Ukraine. Tausende u­krainische Flüchtlinge strömten in die Stadt und von hier weiter über die nahen Grenzen nach Westen. Doch viele blieben auch.

Die Einwohnerzahl von Uschhorod hat sich nahezu verdoppelt. In ganz Transkarpatien, so heißt das Gebiet, zu dem Uschhorod gehört, sollen es bis zu 500.000 Binnenflüchtlinge sein, im ganzen Land gut 5 Millionen. Viele von ihnen kommen aus den stark umkämpften Gebieten der Ostukraine, haben oft quasi von einem Moment auf den nächsten ihre Häuser und Wohnungen verlassen, ihre Kinder an der Hand und einen Rucksack mit dem Nötigsten auf dem Rücken.

Probleme beim Zusammenleben

Wie funktioniert die Integration einer so großen Zahl von Menschen in die Städte und Gemeinden? Welche Pro­bleme ergeben sich beim Zusammenleben zwischen Alteingesessenen und Neuankömmlingen?

In einer zur Notunterkunft umfunktionierten alten Schule in der Kleinstadt Peretschyn, etwa 20 Kilometer nordöstlich von Uschhorod, leben der 23-jährige Vlad aus dem Gebiet Luhansk und die ein Jahr jüngere Olga aus Slodem, Gebiet Donezk. Seit Kriegsbeginn schlafen sie hier in ehemaligen Klassenzimmern auf behelfsmäßigen Pritschen hinter notdürftig mit Folie verhängten Fenstern.

Die Luft riecht abgestanden und nach dem Essen, das die Menschen sich in der Gemeinschaftsküche im Erdgeschoss zubereiten. Überall hängt Wäsche zum Trocknen. Privatsphäre gibt es keine. Wie hält man das aus? Und welche Perspektiven sehen die beiden für ihr Leben?

Olga und Vlad haben sich in der Notunterkunft kennengelernt Foto: Tommy Ramm

„Ich habe gerade mein Studium fertig“, erzählt Vlad. „Ingenieurswesen, alles online“. Seine Hochschule ist kriegsbedingt von Luhansk nach Sjewerodonezk und später nach Dnipro und Kyjiw umgezogen. „Genau wie wir, immer weiter westwärts“, sagt Vlad und grinst. Er selbst ist bei Beginn des russischen Angriffs im Februar „einfach in einen Bus gestiegen, mit meinem Vater – und irgendwann sind wir dann hier gelandet“, erzählt er. Seine Mutter sei in Lettland gestrandet. Olga und er haben sich erst hier in der Notunterkunft kennengelernt, jetzt sind sie ein Paar.

Olga war früher Friseurin, in Peretschyn und Umgebung arbeitet sie jetzt als Maniküristin. Die junge blonde Frau wirkt mit ihrer gepflegten Erscheinung etwas deplatziert zwischen Behelfsbetten und Kleiderstapeln. Olga hat dieses Leben auch ziemlich satt, sie will nach Hause.

„Wir waren gerade eine Woche in Slowjansk“, erzählt sie. „Und bald gehen wir ganz zurück. Aber erst muss noch Vlads Hund gesund werden, er erholt sich gerade von einer Krebsoperation.“ Macht ihnen die nahe Front keine Angst? „Nein, die Front ist doch 28 Kilometer von Slowjansk entfernt“, sagt Olga.

„Wir leben seit 2014 mit der Frontlinie, wir haben uns längst daran gewöhnt.“ Und Vlad? „Entweder gehe ich mit oder ich bleibe hier alleine zurück“, sagt er. Gerade hat er sich für einen Masterstudiengang beworben, online natürlich. Studieren kann er überall. Mit Olga zusammenleben nur in Slowjansk. Auch Vlad wirkt nicht, als ob ihm die Rückkehr in den Osten Angst mache.

Aber nicht alle wollen oder können zurück in die alte Heimat. Viele der Binnenflüchtlinge kommen aus Regionen, die derzeit russisch besetzt sind. Oder unter permanentem Beschuss stehen. Viele haben auch nichts mehr, wohin sie zurückkehren können. Ihre Häuser oder Wohnungen sind zerbombt, in den Städten der Ostukraine gibt es häufig kaum noch Infrastruktur.

Alltagssorgen im Safe Space

In der Kleinstadt Chust, etwa 100 Kilometer südöstlich von Uschhorod, steht ein Tageszentrum für geflüchtete Frauen und Kinder. Es ist einer von insgesamt sechs so genannten „Safe Spaces“, die Vostok SOS im Gebiet Transkarpatien betreibt. In Chust sind es drei frisch renovierte helle Räume über einem Ladengeschäft.

Im vorderen ist mit weichen bunten Matten auf dem Fußboden ein kleiner Indoorspielplatz für Kinder eingerichtet, im Seminarraum nebenan können ihre Mütter Sozialarbeiter und Psychologen konsultieren. Oder sich anwaltlich beraten lassen, zum Beispiel, wenn es um Kompensationen für kriegszerstörte Häuser geht, um Scheidungen oder um in den besetzten Gebieten verstorbene Angehörige, für die man nicht einfach Sterbeurkunden bekommen kann.

Die Frauen können sich auch zu Fragen der Existenzgründung oder beruflichen Neuorientierung beraten lassen. Daneben gibt es Kurse wie Englisch und Fotografie für Business-Websites, aber auch Pilates, Kunsttherapie, Musik- und Literaturveranstaltungen.

Gerade ist ein Englischkurs zu Ende gegangen. Einige der Teilnehmerinnen sitzen jetzt im kleinen Besprechungsraum neben dem Indoorspielplatz zusammen. Durch die großen Fenster blickt man auf die spielenden Kinder draußen. Bei Tee und Gebäck erzählen die Frauen von ihren Alltagssorgen.

wochentaz

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Ähnlich wie Uschhorod ist auch die Kleinstadt Chust durch den Zustrom von Binnenflüchtlingen stark gewachsen Vor dem Krieg lebten hier 28.000 Einwohner, mittlerweile sind 7.000 Menschen neu hinzugekommen. Seitdem haben sich die Mieten verdreifacht.

Eine einfache Einzimmerwohnung in Chust kostet mittlerweile umgerechnet fast 180 Euro, was für viele der Frauen bei einem monatlichen Durchschnittseinkommen von 275 Euro schlicht nicht bezahlbar ist.

Oder sie finden einfach keine Wohnung und möchten nicht länger in der Notunterkunft bleiben. Einige berichten auch davon, dass sie keine Betreuung für ihre Kinder haben und deshalb nicht arbeiten können. Denn Kindergartenplätze sind in der ländlichen Umgebung knapp. Deshalb kehren auch von diesen Frauen immer wieder einige aus dem sicheren Transkarpatien trotz anhaltender russischer Raketenangriffe in ihre Heimatorte zurück. Doch diejenigen, deren Häuser nicht mehr stehen und die keine alten Eltern zurückgelassen haben, versuchen, beruflich und persönlich im Westen des Landes Fuß zu fassen.

Zum Beispiel die 60-jährige Irena aus Lyssytschansk. Dreißig Jahre hat sie in einer Fabrik gearbeitet, jetzt will sie sich als Masseurin selbständig machen. Die Ausbildung hat sie mit Hilfe des Safe Space im benachbarten Mukatschewo absolviert. Oder Tetjana aus Charkiw, die mit ihrer 5-jährigen Tochter schon im März vergangenen Jahres nach Chust gekommen ist. Sie lebt jetzt in einem Dorf in der Nähe und lehrt online im Fach Finanzwesen an der Charkiwer Uni. Nebenbei berät sie auch Frauen im Safe Space Chust in Finanzfragen. Denn fast alle, die hier arbeiten, sind irgendwann selber geflohen.

Anderthalb Jahre nach Beginn des russischen Großangriffs fragen aber auch im Gebiet um Uschhorod immer mehr Einheimische, warum die Flüchtlinge immer noch hier seien. Sie helfen weniger als in den ersten Kriegsmonaten, auch die humanitäre Hilfe nimmt spürbar ab. Umso wichtiger sind jetzt für die Menschen geregelte eigene Einkommen, eine berufliche Perspektive und ein eigenes Zuhause außerhalb temporärer Notunterkünfte.

Transparenzhinweis: Die Recherche wurde durch die Diakonie Katastrophenhilfe unterstützt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!