Wirtschaftssanktionen gegen Russland: Der Rubel rollt nicht

Die Sanktionen gegen Russland haben die Wirtschaft zwar nicht zu Boden gebracht, aber angeschlagen. Nun orientiert sich das Regime in Richtung Osten.

Rote und Weiße Autos in einer Fabrik

Weil weniger Autos westlicher Hersteller produziert werden, steigt die Lada-Nachfrage, etwa in St. Petersburg Foto: Alexander Demianchuk/imago

Stellen wir uns vor, die russische Wirtschaft sei ein großes Schiff. Noch genauer und passender: ein großes Kriegsschiff. Stellen wir uns weiter vor, die Wirtschaftssanktionen, die die Europäische Union und die USA gegen Russland erhoben haben, seien Kanonenkugeln, mit denen auf das Schiff geschossen wird.

Was haben sie bewirkt? Das Kriegsschiff ist noch längst nicht gesunken. Es ist aber angeschlagen, Wasser ist eingedrungen und Rost hat bereits den Rumpf angegriffen und die Mechanik beschädigt. Das System versagt langsam, die Navigation wird ungenauer. Das Schiff wird zwar nicht morgen sinken, aber seine Chancen, einen schweren Sturm oder eine Kollision mit einem Eisberg zu überleben, schwinden von Tag zu Tag mehr.

Nach Ausbruch des Krieges weigerten sich Hunderte von internationalen Unternehmen, darunter praktisch alle führenden Automobilhersteller der Welt, in und mit Russland zu arbeiten. Die Auslieferung von Autos wurde gestoppt und die Produktion in Russland eingestellt.

Firmen wie Mercedes-Benz verboten den russischen Vertragspartnern, ihre Software für die Fahrzeugwartung zu nutzen. Es klingt wie eine kleine Sache, das Beispiel zeigt aber gut, wie die mittlerweile elf Sanktions­pakete der Europäischen Union sowie diejenigen der USA sich auf die russische Wirtschaft auswirken und ihre Entwicklung hindern.

Schon seit anderthalb Jahren läuft der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Am Donnerstag begeht die Ukraine nicht nur ihren Unabhängigkeitstag, vor nun genau 18 Monaten am 24.2.22 hatte Russland die Ukraine attackiert. Die Ukrai­ne­r:in­nen haben sich gewehrt, ein Ende der Kämpfe ist nicht abzusehen. US-Präsident Joe Biden hatte auf die Frage, wie lange der Westen die Ukraine unterstützen würde, geantwortet: „As long as it takes“. So lange es notwendig ist. Zum Jahrestag fragt die taz in einem Dossier: Was heißt das eigentlich genau? Wie lebt es sich in der Ukraine mit dem Krieg? Wie wirken die Sanktionen in Russland? Wie ist die militärische Lage im Land? Und wie sieht es mit der Unterstützung der aus der Ukraine Geflüchteten in Deutschland aus?

Rückbesinnen auf das Handwerk

Denn für Autohändler heißt das: Sie müssen auf in Russland produzierte Lada, chinesische Chery und Haval setzen. Um Autos aus dem Westen zu warten, müssen sie erfinderisch werden, neue Software einsetzen, sich aufs Handwerk rückbesinnen. Das bedeutet mehr Kosten, einen Rückgang der Produktion und damit sinkende Einnahmen. Was können sie tun? Die Preise für ihre Kunden erhöhen. Damit wiederum tragen sie zur allgemeinen Beschleunigung der Inflation in Russland bei.

Bereits 2019 lag die Produktivität Russlands nach Angaben der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) um die Hälfte hinter dem Durchschnitt der EU und um das Zweieinhalbfache hinter dem der USA zurück. Auf neue Technologien konnte sich die Wirtschaft nur schlecht einstellen. Auch im Jahr 2021 brachten nur wenige der großen und mittleren russischen Unternehmen Innovationen hervor. Die Sanktionen werden die Bilanz weiter verschlechtern.

Je niedriger die Produktivität, desto geringer ist das Wachstumspotenzial der russischen Wirtschaft. Bis 2022 wurde dies auf 1,5 bis 2 Prozent pro Jahr geschätzt. Durch den Krieg und die Sanktionen liegt das Wachstumspotenzial nach Ansicht unabhängiger Wirtschaftswissenschaftler nur noch bei 0,5 Prozent pro Jahr. Damit wird der Rückstand Russlands gegenüber den entwickelten Volkswirtschaften und vielen Schwellenländern zunehmen.

Trügerisches Wachstum durch Kriegsausgaben

Russische Wirtschaftsexperten erwarten für das Jahr 2023 ein Wachstum der Wirtschaftsleistung von 1,5 Prozent. Hauptquelle für das Wachstum sind die enormen Kriegsausgaben.

Allein in den ersten sechs Monaten dieses Jahres beliefen sie sich auf rund 55 Milliarden Dollar, das sind 37 Prozent der russischen Staatsausgaben. Bis zum Ende des Jahres könnten die Militärausgaben auf 100 Milliarden Dollar anwachsen – mehr als das jährliche Bruttoinlandsprodukt von Bulgarien (89,1 Milliarden Dollar im Jahr 2022) oder Luxemburg (82,3 Milliarden Dollar).

Doch das durch Militärausgaben erzeugte Wachstum ist trügerisch: Militärausgaben ermöglichen keine echte Wirtschaftsentwicklung. Sie behindern sogar die zivile Industrieproduktion. Ein Beispiel: Der Rüstungshersteller Uralwagonsawod hat vor Kurzem Mitarbeiter seiner zivilen Geschäftsbereiche für die Rüstungsproduktion abgezogen. Das führte zu einem Rückgang der Produktion von Güterwaggons, während gleichzeitig die Nachfrage danach stieg: Russische Exporteure verlegen den Transport ihrer Produkte in Richtung asiatischer Märkte nämlich verstärkt auf den Schienenverkehr.

Leben auf Reserve

Hinzu kommt, dass die Einnahmen des russischen Staates sinken. Einer der Hauptgründe ist die Preisobergrenze von 60 Dollar pro Fass für russisches Öl, die die EU und die USA festgelegt haben.

Russland behauptet zwar, sein Öl zu mehr als 60 Dollar an die asiatischen Märkte zu liefern, das stimmt aber vermutlich nicht. Die Exporteure verlieren also Einnahmen, und so zahlen sie auch weniger Steuern. Von Januar bis Juli 2023 lagen die Öl- und Gaseinnahmen des russischen Staates um 41 Prozent niedriger als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Die Gesamteinnahmen sind um 8 Prozent niedriger als im Vorjahr.

Derzeit lebt Russland von Reserven, die es in der Vergangenheit aufgebaut hat. Um dem Haushaltsdefizit entgegenzuwirken, hat das Finanzministerium in Moskau angekündigt, ineffi­ziente und aus Sicht der Behörden nicht prioritäre Ausgaben zu kürzen. Militärische Posten sollen davon nicht betroffen sein, aber beim Bau und der Reparatur von Straßen, bei der Erneuerung der Energieinfrastruktur sowie im Bildungs- und Gesundheitswesen will die russische Regierung sparen. Das wiederum wird die Wirtschaft zusätzlich schwächen.

Auch der Rubel ist betroffen

Davon ist auch der Rubel betroffen. Durch die Kombination aus hohen Haushaltsausgaben, einem wachsenden Haushaltsdefizit und verschärften Sanktionen hat die russische Währung seit Anfang des Jahres gegenüber dem Dollar um 25 Prozent an Wert verloren. Im Vergleich zum Sommer 2022 hat sich sein Wert halbiert. Das ist die schlechteste Performance aller Währungen der Schwellenmärkte (Stand August).

Der Rubel fällt aus mehreren Gründen. Die Nachfrage nach ausländischen Währungen in Russland wächst. Die steigenden Haushaltsausgaben tragen zu einer steigenden Nachfrage nach Importen bei. Unternehmen, die im Auftrag des Staates arbeiten, kaufen Ausrüstung und Komponenten im Ausland.

Kapital bleibt im Ausland

Die Verbraucher, deren Einkommen dank steigender Löhne und neuer Sozialleistungen wachsen, nehmen leichter Kredite auf und sind bereit, Geld für größere Anschaffungen wie Haushaltsgeräte, Elektronik und Autos auszugeben, von denen viele immer noch aus dem Ausland kommen.

Gleichzeitig werden die Importe durch die Sanktionen teurer – den Importeuren entstehen zusätzliche Kosten, wenn sie Waren über neue Lieferwege einführen – teils im Graubereich der Legalität. Logistik und Frachtversicherung werden ebenfalls teurer.

Mit der wachsenden Nachfrage nach ausländischen Währungen schrumpft auch deren Angebot. Russische Exporteure bezahlen ihre Geschäftspartner zunehmend in Rubel, mittlerweile betrifft das 39 Prozent der Exporte. Und die Unternehmen, die weiterhin Fremdwährungen für ihre Waren erhalten, haben es nicht eilig, diese nach Russland zurückzuführen. Ihr Kapital behalten sie lieber im Ausland.

Obligatorische Empfehlungen

Die sogenannte psychologische Marke hat der Rubel Mitte August erreicht, als der Dollar auf 100 Rubel stieg. Die russischen Behörden hatten noch versucht, der Abwertung entgegenzuwirken: Die Zentralbank erhöhte umgehend den Leitzins von 8,5 Prozent auf 12 Prozent. Dadurch sollte erreicht werden, dass Unternehmen und Verbraucher weniger Kredite aufnehmen.

Auch die Nachfrage nach Importen, das heißt nach Devisen, sollte verringert werden. Selbst der russische Präsident, Wladimir Putin, reagierte darauf und nahm die Kontrolle „in die eigene Hand“, so die russische Zeitung Wedomosti.

Putin versammelte und warnte die großen Exportunternehmen auf einer geschlossenen Sitzung: Sie sollten anfangen, Devisenerlöse freiwillig auf den russischen Devisenmarkt zurückzuführen. Sollte diese „Empfehlung“ nicht wirken, könnte sie obligatorisch werden. Außerdem drohten die Behörden mit einer höheren Steuerlast. Kurz nach der Veröffentlichung dieser Nachricht stieg der Rubel leicht von 100 auf 93 Rubel pro Dollar. Doch das wird nur eine leichte Erholung sein.

Eine neue Form der russischen Währung

Im August begann die russische Zentralbank damit, eine neue Form der russischen Währung zu testen: Rein theoretisch könnte ein digitaler Rubel Russland dabei helfen, die Nachfrage nach ausländischer Währung etwas zu senken und den internationalen Zahlungsverkehr angesichts der Sanktionen zu vereinfachen.

Bislang handelt es sich dabei nur um ein Experiment, an dem 15 russische Banken beteiligt sind. Zukünftig könnte die russische Zentralbank eine gesonderte internationale Plattform für den internationalen Zahlungsverkehr in digitalen Währungen schaffen – so führen die chinesischen Behörden beispielsweise auch derzeit den digitalen Yuan ein.

Dies sind jedoch nur theoretische Modelle. Bislang sind Auslandszahlungen mit dem digitalen Rubel noch Zukunftsmusik. Das liegt vor allem daran, dass Russlands Handelspartner, anders als Russland selbst, nicht vom globalen Finanzsystem abgeschnitten sind. Damit sind sie weniger an einer neuen Plattform für internationale Zahlungen interessiert.

Margarita Liutova ist Mitarbeiterin des russischen Onlinemediums Meduza. Die taz präsentiert immer mittwochs die wichtigsten Texte des im Exil produzierten Mediums unter taz.de/meduza

Aus dem Russischen: Gemma Terés Arilla

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