Getreideexporte aus der Ukraine: Nicht vom Acker machen

Vor einem Monat kündigte Russland das Schwarzmeer-Getreideabkommen. Wie können ukrainische Bauern ihre Erzeugnisse noch sicher loswerden?

Ein Feld aus der Vogelperspektive. Man sieht Menschen, eine Maschine und Fahrzeuge. Unten ein kraterähnliches Loch.

Erntearbeiten nach einem Raketeneinschlag auf einem Feld in der Oblast Dnipropetrowsk Foto: Efrem Lukatsky/ap

ODESSA taz | Für die ukrainische Bevölkerung gehören die Bauern zu den „Superhelden“ dieses Krieges. Es kam schon vor, dass Felder nach Granattreffern zur Hälfte in Flammen standen, während daneben Bauern versuchten, ihre Ernte zu retten. Ihre Höfe sind klein und oft in Familienhand. Zumeist ernähren sie mit ihren Erzeugnissen das ganze Dorf.

Ein Drittel der ukrainischen Felder wurde inzwischen durch Beschuss zerstört, überflutet, vermint oder besetzt. Im Gespräch mit dem Präsidenten des ukrainischen Bauernverbands, Mykola Strizhkak, wird klar, wie sich der erschwerte Getreideexport für die Landwirte bemerkbar macht: „Seit dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine haben die einfachen Dorfbewohner keinen Zugang mehr zu unabhängigen Getreidemärkten. Alle Verkäufe finden nur über Zwischenhändler statt und dementsprechend verkaufen wir das Getreide praktisch zum Selbstkostenpreis“, beschreibt er. Getreide könne nicht unbegrenzt gelagert werden. Und ein Eigentransport mit Autos wäre zu gefährlich.

Vor einem Monat kündigte Russland das sogenannte Schwarzmeer-Getreideabkommen auf. Am 16. Juli verließ das letzte Schiff mit ukrainischem Getreide den Hafen der südukrainischen Stadt Odessa. Ein Tag danach erklärte der Kreml, er werde zivile Frachtschiffe mit Getreide auf hoher See beschießen, sobald diese sich ukrainischen Häfen nähern oder von ihnen wegfahren.

„Inoffiziell funktioniert der Getreidedeal schon seit fast zwei Monaten nicht mehr richtig“, sagt der stellvertretende Leiter der regionalen Militärverwaltung von Odessa, Roman Hryhoryshyn. Durch den ständigen Beschuss der Silos sei das darin gelagerte Getreide verloren gegangen. In der Nacht zum 19. Juli feuerte Russland beispielsweise Raketen auf Getreideterminals in den Häfen von Odessa und Tschornomorsk. „Es könnte zu einer Hungersnot kommen“, erklärt er.

Auch die Donauhäfen bergen Risiken

Von August 2022 bis Mai 2023 wurden 36,2 Millionen Tonnen Nahrungsmittel aus der Ukraine exportiert, so das Gemeinsame Koordinierungszentrum für das Getreideabkommen in Istanbul. Vor dem Angriffskrieg war der Hafen von Odessa einer der schönsten Orte der Stadt. Touristen kamen hierher, große Kreuzfahrtschiffe liefen ein. Es gab Frachtschiffe, riesige Container, Baukräne, eine Eisenbahn, eine Kirche und ein Hotel. Jetzt ist es unmöglich, sich dem Hafen zu nähern. Seit dem 24. Februar 2022 ist der Zugang zu den Häfen und der unmittelbaren Umgebung gesperrt. In der Nacht von Sonntag auf Montag beschossen die russischen Streitkräfte Odessa erneut. Etwa 300 Gebäude wurden beschädigt, darunter 7 Gotteshäuser und eine Entbindungsklinik. Die Menschen der Millionenstadt haben sich daran gewöhnt: Nach den Angriffen räumen sie die Straßen auf und gehen weiter zur Arbeit. Man müsse leben und Witze machen, sagen sie.

Der größte Teil der ukrainischen Getreideexporte wird seit Juli über die Donauhäfen abgewickelt, wenngleich unter großen Schwierigkeiten. Am 24. Juli wurden ukrainische Häfen an der Donau, Reni und Ismajil, von russischen Angriffen getroffen. Auch diese Woche, in der Nacht zu Mittwoch, teilte der Gouverneur von Odessa, Oleh Kiper, mit, dass das russische Militär mit Drohnenangriffen Getreidesilos und Lagerhäuser in einem Donauhafen beschädigt hatte – unklar war bis Mittwochfrüh, ob es sich um Reni oder Ismajil handelte. Aufgrund der bestehenden Risiken durch Beschuss und Minen sind die Schiffe gezwungen, entlang der Küste zu fahren, was ihre Bewegung erschwert. Die Donauhäfen sind weiterhin normal in Betrieb. Kritische Schäden, die durch Beschuss entstanden sind, wurden behoben, und die Wiederaufbauarbeiten sind in vollem Gange.

Für den Mitbegründer und kaufmännischen Leiter des Logistikunternehmens Soul Marine, Iwan Nijaki, ist das Hauptziel des massiven russischen Angriffs klar: „Russland will den Export ukrainischer Agrarprodukte vollständig blockieren.“ Sein Logistikunternehmen hat im Juli mit dem Bau eines Getreideterminals in Ismajil begonnen, welches in einer ersten Phase 20.000 Tonnen lagern können soll. „Es gibt allen Grund zu der Annahme, dass sich der Beschuss wiederholen wird. Russland will der ganzen Welt zeigen, dass die ‚Korridore‘ und ‚Wege der Solidarität‘ ohne Moskau nicht funktionieren werden. Moskau behauptet, es würde die Ukraine auf dem Weltgetreidemarkt ersetzen. Reine Propaganda!“, sagt Nijaki. Eineinhalb Jahre habe der Export über die Donauhäfen ohne militärische Angriffe funktioniert, erst jetzt sei es gefährlich.

Unmittelbar nach dem Beschuss stiegen die Weltmarktpreise sprunghaft an, weil Zweifel an der Beständigkeit ukrainischer Agrarexporte aufkam. Aber jetzt komme die neue Saison in Schwung, die Weltmärkte würden die traditionelle Phase der Preisbildung durchlaufen. „In dieser Hinsicht ist ‚der ukrainische Faktor‘ nur einer von mehreren Faktoren, die auf die Preise einwirken“, äußert sich Nijaki.

Ein Arbeiter fegt Weizenkörner in einem Getreidespeicher

Ein Arbeiter fegt Weizenkörner in einem Getreidespeicher in Zhurivka nahe Kyjiw Foto: Efrem Lukatsky/ap

Folgen der Nichtverlängerung noch gar nicht spürbar?

Er ist der Meinung, dass die globalen Folgen der Nichtverlängerung der Schwarzmeer-Getreideinitiative bislang noch gar nicht zu spüren gewesen seien. „Als erste Reaktion haben sich alle auf die Donau-Binnenschifffahrt orientiert, und dort ist alles bereits um 200 Prozent belastet“, fügt er hinzu. Die kritische Phase wird im Herbst kommen, zum Start der Maisernte. Die Getreidespeicher in Odessa und den Nachbarhafenstädten sind voll, und im September wird eine neue Ernte eingebracht. „Zu diesem Zeitpunkt muss die Ukraine in der einen oder anderen Form einen fertigen Aktionsplan für den Fall einer weiteren Blockade der Häfen im Großraum Odessa entwickelt haben. Soweit ich weiß, ist ein solcher Plan bereits in Arbeit“, erzählt Nijaki. Das Unternehmen Soul Marine will in den kommenden zwei Monaten den Bau des Getreideterminals abschließen und ab September die Arbeit aufnehmen. Bis zum Ende des Jahres will das Logistikunternehmen den Frachtumschlag auf 100.000 Tonnen pro Monat erhöhen.

Anfang August kündigte die ukrainische Marine dann zusätzlich an, vorübergehend Korridore für zivile Schiffe einzurichten, die ukrainische Schwarzmeerhäfen anlaufen oder verlassen. Die Drohung Russlands, jedes Schiff im Schwarzen Meer als potenziellen Militärtransport für die Ukraine einzustufen, bliebe damit unbeachtet. „Wer sind die mutigen Männer, die sich bereit erklären, die russische Blockade zu durchbrechen?“, fragen sich Experten und Kommentatoren in der Ukraine. Schließlich ist die militärische Bedrohung und Minengefahr durch Russland groß.

Kapitäne und Eigner von Schiffen müssen offiziell bestätigen, dass sie bereit sind, unter unsicheren Bedingungen zu fahren. Zurzeit ist die Registrierung von Handelsschiffen noch offen. Der Seekorridor für zivile Schiffe könnte auch für den Getreidetransport genutzt werden. Ein Versicherungsfonds wurde inzwischen in Kyjiw eingerichtet, um Schiffe zu versichern, deren Eigner und Kapitäne sich bereit erklären, diese Routen unter diesen erschwerten Bedingungen zu befahren. Ein erstes Schiff mit Getreide hat an diesem Mittwoch 16. August den Hafen von Odessa verlassen – das deutsche Frachtschiff Joseph Schulte unter der Flagge Hongkongs, das seit 2022 im Hafen von Odessa fest war. Dies gab der ukrainische Infrastrukturminister Oleksandr Kubrakov bekannt.

„Wenn Sie das Risiko eingehen und erfolgreich sind, wird es ein Beispiel für alle sein, dass es möglich ist, einen Korridor ohne Russland zu bauen“, sagt Klimenko. Der Präsident des Bauernverbandes plädiert für eine Nato-Militarisierung des Korridors im Schwarzen Meer. „Das russische Militär sollte wie somalische Piraten behandelt werden, die Angst haben, auf Nato-Schiffe zu schießen“, teilt Strizhak seine Meinung. Für Kaufmann Nijaki aus Ismaji sei die Freigabe der großen Häfen ein Schlüssel zur Lösung der meisten Probleme, jedoch ist er wie die meisten Bauern der Meinung, dass die Sicherheit der Schiffe nur militärisch gewährleistet werden kann. Hoffnung setzt der Logistikunternehmer außerdem in ein geplantes Treffen zwischen dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Denn selbst wenn die Kapazität des Donau-Exports leicht zu erhöhen wäre, wäre eine Normalisierung des Außenhandels und der gesamten Wirtschaft ohne Einschränkungen das Beste. „Aber vor allem wünsche ich mir, dass wir den unvermeidlichen Sieg davontragen.“

Verbündete beraten über Sicherheitsmaßnahmen

Ungeachtet von Russland bleibt der Getreidedeal zwischen Kyjiw, Ankara und den UN noch gültig. Die internationale Gemeinschaft und die ukrainischen Landwirte diskutieren jetzt über die Möglichkeit, Getreide über das Schwarze Meer ohne die Zustimmung Russlands zu exportieren. Allerdings wären in diesem Fall verstärkte Sicherheitsgarantien für die ukrainischen Schiffe erforderlich. Die Begleitung durch Kriegsschiffe ist zunächst nicht vorgesehen. „Allein werden wir keine Lösung finden“, kommentiert der stellvertretende Leiter der regionalen Militärverwaltung in Odessa, Hryhoryshyn, die Möglichkeit des Weiterbestehens des Getreideabkommens ohne Moskau. Er fordert eine Unterstützung der Flotte seitens der Partner Türkei und UN.

Einige Experten sehen darin die Gefahr einer Eskalation, die verhindern würde, dass Getreide ans Ziel kommt. Auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs der Verbündeten der Ukraine wird aktuell über zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen für Schiffe im Schwarzmeerkorridor ohne die russischen Sicherheitsgarantien diskutiert. Es gibt jedoch keine einheitliche Meinung dazu. Am vergangenen Sonntagmorgen wurde berichtet, dass die russischen Streitkräfte Warnschüsse auf ein Zivilschiff abgegeben haben, das auf dem Weg in die Stadt Ismajil war. Die ukrainischen Behörden beurteilten den Vorfall als Einschüchterung.

Dass der Getreideexport per Bahn und Lkw eine wirksame Alternative in naher Zukunft wäre, sehen die meisten ukrainischen Experten skeptisch. Nach Ansicht des Unternehmers Nijaki an der ukrainischen-rumänischen Grenze gebe es keine vollwertige Alternative zum Meer. „Die Donauhäfen können heute 3 Millionen Tonnen pro Monat erreichen, wenn die Sicherheit in der Region gewährleistet ist. Dazu gehört vor allem ein leistungsfähiges Luftverteidigungssystem. An die westlichen Grenzen können eine weitere Million Tonnen pro Monat auf der Schiene transportiert werden“, sagt Nijaki. In der jüngsten Prognose des ukrainischen Getreideverbands sind im neuen Wirtschaftsjahr Ausfuhren in Höhe von 48 Millionen Tonnen geplant. Der Export über alternative Wege wird auch zu einem erheblichen Anstieg der Logistikkosten und infolgedessen zu einem Rückgang der inländischen Einkaufspreise führen.

Diese Last fällt auf die Schultern der ukrainischen Erzeuger. „Während große landwirtschaftliche Betriebe über seriöse Finanz­instru­men­te verfügen und ihre eigenen Logistikketten aufbauen und das Kostenwachstum irgendwie optimieren, sind die einfachen Landwirte in der Ukraine gezwungen, ihr Getreide vor Ort zu einem Mindestpreis zu verkaufen, um über die Runden zu kommen. Das heißt, ein herkömmliches Getreide, das in Constanța, Rumänien, für 230 Dollar gekauft wird, bringt einem Bauern aus der ukrainischen Region Dnipropetrowsk nur 100 Dollar ein“, erklärte der Unternehmer aus Ismajil Nijaki.

Aus dem Russischen: Gemma Terés Arilla

Die Autorin war Teilnehmerin eines Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung.

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