Serie „Die nettesten Menschen der Welt“: Geister der Gegenwart
„Die nettesten Menschen der Welt“ spiegelt den Horror einer intakten Gesellschaft. Die Serie ist eine gewagte Produktion der ARD.
Zwei Frauen sind zum Bewerbungsgespräch eines Tech-Unternehmes geladen. Kay (Stephanie Amarell) ist jung, hochintelligent, unerfahren. Petra (Silke Bodenbender) ist rund 20 Jahre älter, hochgebildet und sehr erfahren. Sie sitzen sich in einem klinischen Raum gegenüber und werden von einem Mann (Fabian Hinrichs) begrüßt, der über einen Bildschirm zugeschaltet ist: „Hey, willkommen bei Nutec, Food Science and Ethics. Ich bin Marco, Head of Human Resources. Danke, dass du mit uns als Moral Values Officer eine Unit führen und für Werte zuständig sein willst.“
Als erste Aufgabe müssen die Frauen sagen, was ihnen aneinander gefällt. Eloquent tragen sie Komplimente vor, doch ihre Gesichter offenbaren Abneigung. Die Strategie der perfiden Befragung scheint aufzugehen: Die professionelle Fassade der Frauen bröckelt, sie werden immer nervöser und angriffslustiger. Als Kay merkt, dass ihr Mikrofon ein schrilles Fiepen bei der Hörgerät tragenden Petra erzeugt, dreht sie die Lautstärke voll auf, bis Petra vor Schmerzen kollabiert.
So weit, so weird. Doch das ist nur der Anfang. Nach einem Schnitt stellt sich heraus: Es war alles gefakt. Petra ist eigentlich Leiterin des Unternehmens und fragt Kay, warum sie um Hilfe gerufen habe, sie habe gewirkt wie ein hilfloses Mädchen. Dass „Nutec“ möglichst skrupellose Leute sucht, ist spätestens am Ende der zweiten Folge der sechsteiligen ARD-Serie „Die nettesten Menschen der Welt“ keine Überraschung mehr.
Bewerbungsgespräch endet tödlich
Spoiler Alert: Kay wird das schlechte Abschneiden zum tödlichen Verhängnis. Warum, bleibt genauso offen wie die Gründe für die Schicksale in den anderen Episoden: etwa das des Studenten Ben (Liam Mockridge), der seinem Mitbewohner Marten (Anton von Lucke) dessen Freundin Anne (Lena Klenke) ausspannt und von einem Monster heimgesucht wird.
Überhaupt bleibt vieles vage in der neuen Serie von Alexander Adolph, der sonst regelmäßig bei „Tatort“ Regie führt und hier zusammen mit Eva Wehrum das vor absurden Dialogen strotzende Drehbuch geschrieben hat.
„Die nettesten Menschen der Welt“ in der ARD-Mediathek
Gerade das Vage macht die Serie so erfrischend. Sie vermengt Elemente aus Horror, Fantasy und Science-Fiction und macht sich dabei zwei grundlegende Aspekte einer zeitgemäßen Horrorstory zu eigen. Erstens geht es kaum um den Schrecken von Außen in Form von Monstern oder Zombies, sondern um den Schrecken von Innen. Er bleibt zunächst verborgen und bricht bisweilen schockartig durch die dünne Wand der vermeintlich idyllischen Normalität. Zweitens ist nie klar, wer oder was hier das, der oder die Böse oder Gute ist.
Schock und Ambivalenz
Ästhetisch getragen wird die Serie vom tollen Cast, dem es gelingt, selbst bei den boshaftesten Handlungen wie Unschuldslämmer zu wirken, und von der eigenwilligen Bild- und Tonsprache. Während die Kamera mal aus Sicht einer Katze filmt, macht der Soundtrack oft das Gegenteil von dem, was deutsche Serien sonst gerne machen. Er verdoppelt die Bildebene nicht, er konterkariert sie. So manch spannende Szene wird, wie in der Doppelfolge „Elmchen“, mit gehauchtem Gitarrenzupfen unterlegt statt mit üblichem Archiv-Gedröhne.
So viel Lust an Genre-Konvention, Schock und Ambivalenz ist selten im Öffentlich-Rechtlichen, das so gerne auf eindeutiges, möglichst genrefernes Erzählen setzt. Gilt Letzteres doch immer noch oft als kulturell wertlos. Dabei steckt gerade darin oft viel Potenzial, insbesondere für alle, die künstlerischen Produkten gerne „politische Bedeutung“ zuweisen.
Ohne sie darauf zu reduzieren, ließe sich die Serie als Kritik auf eine Gesellschaft lesen, die aktuell wieder ziemlich gut darin ist, das Schreckliche zu verdrängen oder zu ignorieren. Es ist nicht wie „BRD Noir“, wie der Autor Frank Witzel einst Literatur und Filme aus den 60er- und 70er Jahren nannte, in denen sich die Geister des Faschismus hinter der Kulisse der wiederaufgebauten Kultur versteckten. Es ist eher „BRD Grau“. Die Geister sind nicht immer einfach nur böse und sie kommen nicht aus der Vergangenheit, sie kommen aus dem Jetzt. Das Projekt Gesellschaft ist hier auf gruselige Weise intakt – nicht trotz, sondern wegen der mörderischen Machenschaften, die verborgen bleiben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Abschiebung von Pflegekräften
Grenzenlose Dummheit
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos
Trumps Personalentscheidungen
Kabinett ohne Erwachsene
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein