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Vorstadtkrawalle in FrankreichMacron beruft Krisenzelle

Frankreich erlebt trotz eines Aufgebots von 40.000 Ordnungskräften eine dritte Krawallnacht. Es kommt zu Plünderungen und Randalen.

In der dritten Nacht in Folge hat es in Frankreich nach dem Tod eines Jugendlichen bei einer Polizeikontrolle Krawalle gegeben Foto: Aurelien Morissard/AP

Paris taz | Nach Einschätzung der Polizei war die dritte Nacht mit gewaltsamen Konfrontationen mit aufgebrachten Jugendlichen in zahlreichen Quartieren in Frankreich „noch schlimmer als die beiden vorhergehenden“. So äußerte sich ein Sprecher der Behörden am frühen Freitagmorgen in der französischen Zeitung Le Figaro. Am Dienstagvormittag hatte ein Polizist in Nanterre, ein Vorort in Paris, bei einer Straßenkontrolle einen Jugendlichen, den 17-jährigen Nahel, erschossen. Der Polizeibeamte befindet sich in Untersuchungshaft, gegen ihn wurde ein Ermittlungsverfahren wegen „vorsätzlicher Tötung“ eingeleitet.

Die Vorstadtquartiere kommen seither nicht mehr zur Ruhe. Ein von Nahels Mutter gewünschter Trauermarsch am Donnerstag verwandelte sich zunächst in eine Demonstration mit feindseligen Sprechchören gegen die Polizei. Später am Nachmittag griffen vermummte Jugendliche die Polizei an und setzten ein Bürogebäude mit einer Bankfiliale in Brand.

Die Auseinandersetzungen dauerten bis spät in die Nacht an. Nicht nur rund um die Hauptstadt Paris, sondern auch in anderen Landesteilen, vor allem in der Region Lille und in Marseille, wo es zu Plünderungen kam, attackierten Jugendliche mit Molotow-Cocktails und Feuerwerkraketen die Ordnungskräfte, öffentliche Gebäude wie Rathäuser, Polizeiposten oder Schulen und steckten Autos in Brand.

Ausgehverbot bleibt bis zu 3. Juli in Kraft

In der Nacht auf den Freitag wurden laut französischem Innenministerium 667 Personen festgenommen, 249 Angehörige der Polizei und Gendarmerie wurden verletzt. Auch das massive Aufgebot von 40.000 Angehörigen der Polizei und Gendarmerie, darunter Eliteeinheiten, vermochten diese Eskalation der Gewalt nicht zu verhindern – was am Donnerstag noch Innenminister Gérald Darmanin versprochen hatte.

Vergeblich hatten überdies die Bürgermeister mehrerer Pariser Vororte ein Ausgehverbot von 21 Uhr bis 6 Uhr früh angeordnet, das in einigen Fällen aus Angst vor neuerlichen Ausschreitungen bis zu 3. Juli in Kraft bleiben soll. Staatspräsident Emmanuel Macron muss voraussichtlich seine Teilnahme am EU-Treffen in Brüssel abbrechen, um in Paris eine von ihm einberufene Krisensitzung zu leiten.

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8 Kommentare

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  • Hier zeigt sich die massive soziale ungleicheit - die die meisten leute nicht kennen, verstehen oder ignorieren!

    Hier trifft eine masse frustrierter und kaum integrierter jugendlicher, auf ein system der ignoranz, ungenauigkeit und permanenten inkompetenz, täuschung und heuschelei. so ist die realität!

    bei den amerikanern wird das alles bissi abgefedert durch die freiheitspriorität. da ist kompetenz und soziales verhalten eh nicht so relevant, deswegen sieht da der frust anders aus. aber selbst da sieht man auch in bestimmten gegenden der verwahrlosung, das es immer wieder zu massentumulten kommt, ebenso wie hier.

    Die schulen sind eben teil dieses systems, auch wenn sie dabei noch eine teilweise positive rolle spielen, die die jugendlichen aber unter diesem aspekt als erste ordnungsinstanz eines insgesamt asozialen und nicht vertrauenswürdigen ordnungssystems einstufen. also weg damit.

    ineffziente massengesellschaft, kulturelle differenzen, übermäßiger übergriff der kontrollorgane. all das sind uralte probleme, die seit jeher immer wieder zu aufständen führen und zu den sleben oberflächlichen heilverfahren.



    ein grundproblem imperialistischer massengesellschaften.

    aber ansatt die schlechte bildung - die armut, gewalt und unwahrheit zu bekämpfen, erhöht man halt lieber die sicherheitsmaßnahmen. eine weiterhin dumme asoziale antwort auf eine mehr als uralte soziale und unumgängliche problematik.

    • @Christian Will:

      Es gibt viele Gegenden weltweit, in denen die soziale Ungerechtigkeit um Größenordnungen ausgeprägter ist als in Frankreich. Ich denke in Frankreich hat dies weniger mit sozialer Ungleichheit zu tun als vielmehr mit dem Teufelskreis Rassismus und Integrationsproblemen.

  • Le Monde, vermutlich auch Libé, zeigt das vidéo. Mich erstaunt, wie präzise es aufgenommen wurde. Die Idee permanenter Überwachung wie in Orwell-China mag ich nicht, aber hier sorgt es für die notwendige Transparenz. Vieles ist zurückzuführen auf die ghettoartigen Vorstädte, die schon vor 30 Jahren so aussahen, zusammen mit einem sehr autoritären Geist, der von Sarkozys Kaerchersprüchen 2005 etwa bis zu Macrons Unfähigkeit, seine Rolle mit mehr Distanz wahrzunehmen, reicht. So fehlt dann sowohl auf der einen wie anderen Seite gesellschaftliche Verantwortung und der Respekt vor dem Individuum. Ein freiheitlich-kooperativer Geist, der die Menschen zusammen bringt wie 1968, also Solidarität von unten, der Innen- und Vorstadt verbindet, könnte helfen.

  • Der Bericht über die Polizei in Frankreich in der Le Monde Diplomatique zeigt, wo des Pudels Kern liegt: Die französischen Bourgeoisie und ihre Machthaber rüsten seit Jahren Frankreich für den polizeilichen Bürgerkrieg auf. Unruhen und Aufstände sollen mit aller Gewalt unterdrückt werden - es grüss die 'Pariser Commune' von 1871....



    Richtig Übel ist, dass die Polizei und die Staatsanwaltschaft erst durch die unwiderlegbaren Handy-Videos handeln mussten. Zuvor hatte man noch gelogen, der Fahrer habe versucht, die Polizisten über den Haufen zu fahren. Überall in Europa häufen sich solche Vorfälle, die Staaten rüsten massiv gegen die Armen 'Störenfriede' des bürgerlichen Wohlstandes auf.....

  • Bei alle verständlicher Wut, aber Attacken auf Schulen? Sorry, da bin ich raus. Das ist nur noch dumm.

  • Ein Zorn auf die Polizei ist verständlich, das hat ja sogar der Innenminister gesagt.

    Aber Schulen anzuzünden? Was hat denn das damit zu tun? Dafür fehlt mir jedes Verständnis.

    • @Winnetaz:

      Schulen sind letztlich auch Teile des hier verhassten Staatsapparats und tragen in den entsprechenden Viertel sicher auch zu der Diskriminierung der hier aufständigen Jugendlichen bei.

  • Mediales Schulterzucken

    Für die Mutter des kaltblütig ermordeten Jugendlichen mit algerischen Wurzeln war dies eine „rassistische Tat“ (France 5). Dies dürfte auf der Hand liegen und wäre bei dem politischen Profil der französischen Polizei kein Wunder. Schon vor Jahren hat das IFOP-Institut einen erhellenden Befund erstellt: Danach bekundeten die Sicherheitskräfte Frankreichs (inkl. Polizei, Armee und Geheimdienste) eine im Vergleich zum Landesdurchschnitt doppelt so hohe Wahlaffinität zum „Rassemblement National“ (44 % gegenüber 23%) und zum RN-Verbündeten „Debout la France“ (DLF, 4% zu 2%). (Vgl. "Radioscopie de l’électorat du Front National", IFOP, 18/04/2017). Mithin durfte damals fast die Hälfte der Beamten der französischen Sicherheitsapparate zum stabilen Wählerstamm des französischen Pendants zur AfD gezählt werden.

    Heute, wo Wahlumfragen bei einer hypothetischen Neuauflage des Duells Macron - MLP eine krachende Niederlage des Präsidenten prognostizieren, dürfte dieser Anteil weiter gewachsen sein. Da ist es auch keine Überraschung, daß das rassistisch motivierte brutale Vorgehen der Polizei regelmäßig auf den Beifall des R.N. stößt, wie jetzt auch wieder.

    Da beißt die Maus keinen Faden ab: Die französischen Sicherheitsapparate, die tragende Säule des Staates, sind schwarz-braun durchseucht. Während hierzulande ein knapper Ausgang einer unbedeutenden Wahl in tiefster ostdeutscher Provinz ein politisches Erdbeben auslöst, erzeugt dieses ungleich ernstere Phänomen in Frankreich, dem wichtigsten politischen und wirtschaftlichen Partner Deutschlands, bestenfalls ein mediales Schulterzucken.