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Leiterin Rotes Kreuz über Dammbruch„Viele wollen nicht gehen“

Die humanitäre Lage in Cherson ist dramatisch, sagt Natalja Schatilow. Der Regionalleiterin des Roten Kreuzes fehlen die Worte für die Barbarei.

Helfer evakuieren die Bewohner Chersons aus den überschwemmten Gebieten Foto: Vladyslav Musiienko/reuters
Interview von Juri Larin

taz: Frau Schatilow, wie stellt sich die Lage am Mittwochmorgen in Cherson dar?

Natalja Schatilow: Der Wasserpegel ist über Nacht weiter gestiegen, das tut er auch jetzt noch. Nach Angaben der ukrainischen Militärverwaltung könnte er in den kommenden 20 Stunden noch einmal um ein bis zu anderthalb Meter steigen. Die Straße in den Vorort Kamyschany ist blockiert. Zum Mikrobezirk Ostrow gibt es ebenfalls keinen Zugang.

Im Interview: Natalja Schatilow

49, ist stellvertretende Leiterin der Regionalorganisation Dnipro des Roten Kreuzes Ukraine in der Stadt Cherson

Der staatliche Rettungsdienst ist mit Booten im Einsatz, aber die Menschen können zu einigen Orten nicht alleine gelangen. Panik herrscht nicht. Meinen Unterlagen zufolge gibt es bislang keine Verletzten. Viele Leute wollen eigentlich gar nicht aus Cherson gehen. Diejenigen, die das brauchen, befinden sich an speziell ausgestatteten sicheren Orten in Cherson. Jetzt muss das Problem gelöst werden, Familien mit warmen Mahlzeiten und Hygieneartikeln zu versorgen. Wir erhalten bereits humanitäre Hilfe aus unterschiedlichen Regionen in der Ukraine, aber auch aus Europa.

Was wird jetzt am meisten gebraucht?

Tabletten, um Wasser zu desinfizieren. Denn es besteht die Gefahr, dass sowohl Kläranlagen als auch Friedhöfe überflutet werden. Und das wird sich auf die Wasserqualität auswirken. Doch wie ich schon sagte: Die Be­woh­ne­r*in­nen von Cherson haben die Besatzung und den Beschuss überlebt. Jetzt wollen sie warten, bis das Wasser nachlässt, um dann möglichst schnell nach Hause zurückzukehren. Wir reagieren jetzt auf die aktuellen Bedürfnisse der Menschen. Gleichzeitig ist klar, dass es Konsequenzen geben wird, die morgen, übermorgen, in einer Woche oder erst in einem Monat sichtbar werden. Wir verfolgen das alles genau.

Es gibt Kläranlagen, die bereits überflutet, und Friedhöfe, die bereits weggeschwemmt worden sind. Es gibt viele Faktoren, die sowohl das Grundwasser als auch das Wasser im Dnipro betreffen. Wir haben bereits um Wasser gebeten. Aktuell gibt es noch Trinkwasser, aber wer weiß, wie lange. Auch gibt es ein großes Problem mit Tieren, die wir versuchen zu retten. Wir suchen nach Möglichkeiten, wie man sie da herausholt und füttert.

Sind bereits viele Tiere gestorben?

In den überschwemmten Gebieten haben unsere Freiwilligen und Bürger mit dem Boot oder zu Fuß Tiere auf eigene Faust gerettet – Hunde und Katzen. Sie haben sie in Autos gezerrt, in Notunterkünfte oder an trockene Orte gebracht und gefüttert. Die Beschaffung von Tierfutter ist vordringlich.

Sind Apotheken und Geschäfte geöffnet?

Ja, das gilt für alle Läden, die außerhalb der Risikozone liegen.

Geht der Beschuss weiter?

Gerade wird nicht geschossen. Aber am Mittwochmorgen sind die Evakuierungen unter Beschuss erfolgt. Es gab beängstigende Momente. Die Leute wollten weggehen, gerieten dabei jedoch immer wieder in lebensgefährliche Situationen.

Haben Sie damit gerechnet, dass die Russen den Damm sprengen würden?

Wir sind bereits sehr stressresistent und wissen, wie man sich in Sicherheit bringt und versteckt. Bei uns macht gerade ein Witz die Runde: Selbst wenn Außerirdische kämen, wären wir nicht überrascht. Aber was jetzt passiert ist, eine solche Öko-Katastrophe, das war nicht zu erwarten. Ich verstehe diese Barbarei nicht, das ist grausam. Mir fehlen die Worte.

Aus dem Russischen: Barbara Oertel

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1 Kommentar

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  • Annette Hauschild , Autor*in ,

    Das Technische Hilfswerk ist schon mit Stromgeneratoren und Wasseraufbereitungsfiltern unterwegs, sie schätzen, dass sie übermorgen oder übermorgen im Katastrophengebiet eintreffen werden. Aber ein großes Problem, zusätzlich zu der Verschmutzung des Wassers durch überlaufende Kanalisation, überflutete Tankstellen, Chemiebetriebe, Krankenhäuser mit radiologischen Stationen, etc können die Kampfmittel sein, Munition, Blindgänger und Minen. Die werden durch die Flut verschleppt und landen unter Umständen in Gebieten, die bisher nicht vermint waren. Minengebiete werden vom Militär kartiert, damit die eigenen Kräfte da nicht hineinlaufen - nur der Feind - und jetzt sind die Karten wertlos.