Japanischer Anime „Suzume“: Es droht Vernichtung
Der Anime-Film „Suzume“ von Makoto Shinkai findet für individuelle und kollektive Traumata überbordende Bilder. Und warnt vor einem roten Wurm.
Wunderschön ist das Glitzern des Meeres, wenn Suzume auf ihrem Schulweg mit dem Fahrrad von oben, wo sie wohnt, nach unten hinabrollt. Sie ist siebzehn, sie lebt in der japanischen Provinz, in einem Städtchen auf der Insel Kyushu. Als sie vier war, ist ihre Mutter gestorben. Nun lebt sie bei ihrer Tante, Takami, die sie an Tochter statt annahm, alleine erzog und nun, kleines Nebendrama, das mitläuft, wieder eine Partnerschaft sucht. Das ist der Stand der Dinge, bevor alles sich zu überschlagen beginnt.
Auf dem Schulweg begegnet Suzume einem jungen und schönen Mann auf der Suche nach einem verlassenen Dorf. Sie weist ihm den Weg, eilt dann hinter ihm her, ins Dorf, wo sich Unheimliches zuträgt: Es öffnet sich nämlich, ganz buchstäblich, das Tor zu einer anderen Welt.
Makoto Shinkai beherzigt die Regel, dass man eine Geschichte am besten mit einem Erdbeben anfangen lässt, um dann alles weiter zu steigern. Das gilt aber nur auf den ersten Blick, denn noch im größten Tohuwabohu (und daran fehlt es hier nicht) ist der Anime-Auteur im Herzen ein Lyriker, wenn nicht ein Idylliker, das haben seine ersten, frühen, kurzen Filme gezeigt.
Der 45-Minüter „The Garden of Words“ von 2013 ist eine regentropfenverliebte Naturmeditation, in der sich wunderbar wenig ereignet. Und in großformatigen Filmen, die folgten – „Your Name“, dem Riesenhit, der ihm 2016 den Ruf als neuer Großmeister des Anime eingebracht hat, sowie „Weathering with You“ von 2019 –, war Shinkai immer auch naturmystisch unterwegs.
„Suzume“. Regie: Makoto Shinkai. Japan 2022, 121 Min.
Der Komet, der in „Your Name“ einschlägt, verwüstet eine wunderschöne, traditionsreiche Landschaft, wodurch die Welt an einer eher unauffälligen Stelle aus den Fugen gerät: Ein Mädchen, das beim Einschlag stirbt, lebt im Körpertausch mit einem Jungen aus Tokio weiter, sodass beide nach einer Odyssee, die viele japanische Landschaften zeigt, in einer nicht ganz erklärlichen Zeitfuge alles wieder halbwegs einrenken können.
In „Weathering With You“ geht es um eine junge Frau, die die Fähigkeit besitzt, mit geschlossenen Augen das Wetter zu machen, gute Gelegenheit für Shinkai, seiner grandiosen Obsession für animiertes Wasser zu folgen, sei es als spiegelnde, glitzernde Fläche oder sei es als Tropfenkonzert.
Und so beginnt in „Suzume“ alles mit dem Glitzern des Wassers, dem Aufbruch des Morgens, dem schulischen Alltag, mit der detailliert und fast hyperrealistisch ausgemalten Schönheit der Natur, ihrem Grünen und Blauen, in dem sich das Esoterische auch später immer wieder erdet, und sei es mithilfe des Wassers, das Oben und Unten verbindet.
Verbunden aber sind auch die Stadt und das Land, die Vernichtung träfe beide, und so sehen in Shinkais Filmen die Stadt wie das Land stets hinreißend aus, Verkehr, Hochhäuser, Züge sind eher etwas wie vom Menschen geschaffene zweite Natur. Das eine wie das andere ist durch die Katastrophe gefährdet, und vor allem ist es die Harmonie dieser Verbindung.
Die Katastrophe, die als Erdbeben droht, hat eine furchterregende Gestalt: Sie ist ein riesiger roter Wurm aus Strängen und Fäden, ein Sturm, der heraufzieht, sichtbar jedoch nur für Eingeweihte, zu denen von nun an auch Suzume gehört. Der Wurm steigt als eine Art umgekehrter roter Tornado zum Himmel, um ihn Vögel mit großem Geschrei, und erst wenn er herabfällt, bewirkt er als Beben Tod und Vernichtung.
Die Bedrohungslagen sind das, was sich im Lauf des Films steigert und steigert. Zunächst öffnen sich die Portale des Schreckens nur an abgelegenen verlassenen Orten, etwa einem stillgelegten Freizeitpark in den Bergen, wo der Wurm aus einer Riesenradkabine hervorbricht. Am Ende jedoch ist Tokio von der Zerstörung bedroht, Millionen Menschen müssten sterben, wenn es nicht beim klirrenden Vorbeben bliebe.
Der junge Mann, dem Suzume am Anfang begegnet, heißt Souta, ist Lehramtsstudent, vor allem aber auch, langer Familientradition folgend, ein „Schließer“: Wo sich ein Portal geöffnet hat, eilt er herbei und macht die Tür wieder zu. Leider hat Suzume unabsichtlich gleich zwei Fehler begangen. Sie hat einen Schlussstein entfernt und ist durch das Tor kurz ins Jenseits spaziert, das eine Mischung aus Trauma-Ort und Minecraft-Netherworld ist.
Der Schlussstein hat sich rasch in eine süße sprechende Katze verwandelt, die den Schließer kurzerhand in einen dreibeinigen gelben Schemel hineinbannt. Der kann nun seinerseits sprechen und laufen, was die Normalwelt mit oft komischem Effekt in Staunen versetzt.
Sprechendes Tier, rennender Schemel, über- beziehungsweise unterirdische Kräfte, die heraufziehende Katastrophe, verbildlicht als riesiger Schurken-Wurm, der auch dem Marvel-Universum entsprungen sein könnte, dazu Suzumes Kindheitstrauma, nämlich der Tod ihrer Mutter, und die dazugehörigen Erinnerungsbilder, die sich beim Gang durchs Portal zeigen: Da kommt eine Menge zusammen, Großes und Kleines, Mythisches und Privates.
Roadmovie, Superhelden-Drama und Buddy-Komödie
Der Film purzelt entsprechend auch von einem Genre zum andern und wieder zurück. Roadmovie, das sich quer durch Japan bewegt, hier, Superhelden-Drama da, Buddy-Komödie von Mädchen, Katze und Schemel zwischendurch, Social Media spielen auch ihre Rolle, nicht zu vergessen die Idyllen-Einlagen von grünender Landschaft und verlassenen Orten.
Shinkai ist keiner, der Sachen säuberlich unter einen Hut bringt oder zwingt. Das war schon in „Your Name“ der Fall, der auf ähnlich Großes hinauswill und sein zentrales Motiv nie restlos erklärt, und wird in „Suzume“, der dieses Jahr im Berlinale-Wettbewerb lief, geradezu zum Prinzip. So ist der Film vielfach lesbar, ohne dass die Lektüren einander widersprechen. Zum einen erzählt er vom Trauma einer jungen Frau, die ihre Mutter verlor und das Erlebnis nun in einer großen Heldenreise mit kleinen Begleitern bewältigen muss – ein ins Superheldendrama hinausgewucherter Familienroman.
Es ist andererseits keine Frage, dass „Suzume“ wie schon „Your Name“ das nationale Trauma Fukushima behandelt (die Erinnerung an Hiroshima und Nagasaki schwingt dabei notwendig mit), als Katastrophe, die jederzeit hereinbrechen kann.
Dazu kommt als neues Motiv das demografische Problem der sinkenden Geburtenraten in Japan, als dessen Ausdruck die wachsende Zahl aufgelassener Orte und Dörfer fungiert. Shinkai ist weder Nostalgiker noch Eskapist, der sich die Rückkehr zur Tradition herbeiträumt; dafür setzt er die Großstadt mit viel zu großer Begeisterung als dynamischen Organismus ins Bild.
Eher geht es ihm darum, große und kleine Bilder und diverse Genres kreuzende Geschichten für die stete Gefährdung, für das Prekäre der Harmonie von Mensch und Natur zu entwerfen. Es ist nur logisch, dass die Filme zwischen überbordender Fantasie und intimer Idyllik wild schwanken; dass sie Rahmen ziehen und gleich wieder sprengen.
Das unterscheidet Shinkai und andere jüngere Anime-Auteure von der Generation Ghibli: Sie unternehmen nicht mehr den Versuch, in ihren Werken einen harmonischen Zusammenhang herzustellen, als ästhetische Gegenkraft zu einer gefährdeten Welt. „Suzume“ ist als Film, bei aller Gekonntheit und Schönheit, selbst zerstückt, ein zerbrochenes Ganzes aus großen und kleinen, glitzernden, wutroten, komischen, animistischen und vielen anderen Scherben.
„Suzume“. Regie: Makoto Shinkai. Japan 2022, 121 Min.
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