Politische Gefangene über ihre Haft: „Nicaragua braucht eine Demokratie“
Dora María Téllez war mal sandinistische Guerillakämpferin, später Ministerin und saß unter Daniel Ortegas Regime bis Februar in Isolationshaft. Ein Gespräch.
taz: 605 Tage waren Sie in Dunkelhaft allein in einer Zelle. Wie überlebt man das, ohne verrückt zu werden?
Dora María Téllez: Das ist gar nicht leicht. Man muss einen Überlebensmechanismus entwickeln. Eine Zeit lang bin ich um 4.00 Uhr aufgestanden und habe eine Stunde Gymnastik gemacht. Dann bin ich eine Stunde im Kreis gegangen und habe auf das Frühstück gewartet. Dann bin ich wieder eine Stunde gegangen und habe bis zum Mittagessen Gymnastik gemacht. Der Nachmittag war immer lang und schwierig. Da lässt man sich Ereignisse und Szenen aus der Vergangenheit durch den Kopf gehen: das Verhältnis zu den Eltern und Geschwistern. Manchmal habe ich an bestimmte Bücher gedacht oder mir Gedichte in Erinnerung gerufen. Das hilft, das Gehirn zu trainieren. Einige Mitgefangene haben versucht zu schlafen. Ich kann am Nachmittag aber nicht schlafen. Um 5.00 Uhr bin ich dann aufgestanden und habe mit dem Bewegungsprogramm begonnen. In der Dunkelheit habe ich mir dabei das Knie und die Füße verletzt. Ich hatte ja keine Schuhe, nur Flipflops.
Sie wurden zu acht Jahren verurteilt. Wie geht man damit um?
Das sind Grenzerfahrungen, es bedeutet eine ständige Unsicherheit. Ich fühlte mich tot. Vor allem die ersten drei Monate, bevor wir erstmals Familienbesuch empfangen und einen Anwalt sehen durften, das war wie in einer Gruft. Es ist eine Art der Nichtexistenz, was man empfindet. Wir durften ja weder lesen noch schreiben, mit niemandem reden, keine Mitgefangenen sehen, keinen Sport betreiben, absolut nichts. Das Einzige, was wir machen konnten, war essen, schlafen, die Notdurft verrichten und und ein wenig bewegen.
Revolutionärin: Geboren 1955, kam Téllez in die Schlagzeilen, als sie 1978 führend an der Stürmung des Nationalpalastes in Managua, Nicaragua, teilnahm. Abgeordnete des Somoza-Regimes wurden als Geiseln genommen, um Gefangene freizupressen. Dies war der Anfang vom Ende des tyrannischen Regimes.
Ministerin: Nach dem Sturz Somozas im Jahr 1979 war Téllez an einer Alphabetisierungskampagne beteiligt und wurde schließlich Gesundheitsministerin.
Gefangene: Nach dem Ende der Sandinistischen Revolution 1990 überwarf sie sich mit Präsident Daniel Ortega, der zunehmend autoritär auftrat. Sie gründete die Sandinistische Erneuerungsbewegung (MRS), wurde im Juli 2021 festgenommen und später zu acht Jahren Haft verurteilt. Am 9. Februar wurde sie nach 605 Tagen Dunkelhaft freigelassen, ihrer Staatsbürgerschaft beraubt und in die USA abgeschoben. Die taz sprach mit ihr per WhatsApp.
Wie wichtig ist es, das Gefühl für die Zeit nicht zu verlieren?
Sehr wichtig. Aber es ist fast unvermeidlich, dass das passiert. Du zählst die Tage, aber es kommt vor, dass dir ein Tag im Monat mal fehlt. Ich habe mir immer vorgesagt: Heute ist Montag, der 23. Januar. Aber ich wusste nicht, wie spät es war. Man orientiert sich an den Mahlzeiten. Diejenigen, die ihre Zellen näher am Innenhof hatten, sahen ein bisschen Tageslicht. Bei mir war es Tag und Nacht dunkel. Die Tage zogen sich endlos hin. Und die Wärter mussten vor Dienstantritt Uhr und Telefon ablegen, damit wir nichts sehen konnten. Wir wussten nur ungefähr, wie lange die Schichten dauerten und dass der Dienst um 8 Uhr begann.
Vor über 40 Jahren beim Training für die Guerilla gab es Hinweise darüber, wie man die Haft am besten überstehen könnte?
Das nicht, wir wurden jedoch auf die Verhöre vorbereitet. Das war nützlich. Die ersten Monate wurden wir ja dreimal täglich zum Verhör aus der Zelle geholt: am Morgen, am Nachmittag und um Mitternacht. Da wollten sie Auskunft über bestimmte Personen, die Kirche, unsere Partei, NGOs, die Medien, einzelne Journalisten, die Frauenbewegung, die Bauernbewegung und andere. Mich haben sie absurde Dinge gefragt: wie viel ein Medium mir für ein Interview gezahlt habe, wie ich es geschafft habe, von bestimmten Medien interviewt zu werden, oder wie viele Seminare zur Ausbildung von Führungskräften ich gegeben habe. Sie waren überzeugt, dass aus diesen Kursen die Jugendlichen hervorgegangen sind, die den zivilen Aufstand 2018 angeführt haben. Diese politische Polizei hat eine total repressive Mentalität und will die Kontrolle über alles haben. Von 17 verschiedenen Personen bin ich verhört worden.
Und immer ging es um den angeblichen Putschversuch vom April 2018?
Immer. Alle hatten sich das Narrativ vom nicaraguanischen Präsidenten Daniel Ortega zu eigen gemacht, dass die USA damals einen Putsch inszeniert hätten – die USA in Zusammenarbeit mit der Kirche und unserer Partei MRS, die jetzt Unamos heißt.
Ortega verweist gerne darauf, dass er auch sieben Jahre im Gefängnis war. Sind die Haftbedingungen damals unter dem Diktator Anastasio Somoza vergleichbar mit den heutigen?
Ortega war nie in Isolationshaft. Wir hatten keines der Rechte, die die politischen Gefangenen damals genossen. Sie durften jede Woche mit der Familie telefonieren, Nachrichten im Fernsehen schauen, lesen, kochen, sich in der Cafeteria treffen. Ich durfte nur gerade zwei Minuten vor Prozessbeginn mit meiner Anwältin reden. Und die Prozesse waren absolut abartig: Den Anwälten wurden keinerlei Beweise vorgelegt. In sämtlichen Fällen hat die Polizei die „Beweise“ frei erfunden. Einem Freund aus La Paz Centro hat man einen Facebook-Account eingerichtet, um dort verfängliche Posts zu platzieren. Der Mann ist 78 Jahre alt und wusste nicht einmal, was Facebook ist. Man hat sich also nicht einmal bemüht, die Formen zu wahren.
In Ihrem Fall, welche Beweise hat man da vorgelegt?
Das war sehr unterhaltsam. Die „Beweise“ waren drei Tweets, eigentlich Re-Tweets, also Posts, die ich kommentarlos weitergeleitet habe. Das eine bezog sich auf den Senat in Washington, der damals erwog, Nicaragua aus dem Freihandelsabkommen auszuschließen – es war in der Zeit der „nicht sauberen“ Wahlen im November 2021. In den anderen ging es um ähnliche Dinge. Das hat gereicht, um mir vorzuwerfen, US-Sanktionen gegen Nicaragua gefordert zu haben. Ich habe gesagt, dass ich Sanktionen gegen Ortega und seine Ehefrau und Vizepräsidentin Rosario Murillo befürworten würde. Beide haben die nicaraguanischen Staatsinstitutionen korrumpiert und sollten dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Diese Prozesse waren wie ein politisches Erschießungskommando.
Nach Ihrer Freilassung und der der über 200 politischen Gefangenen im vergangenen Februar haben Sie gesagt, das sei ein Eingeständnis der Niederlage Ortegas, weil keiner der Inhaftierten eingeknickt sei. Was wollten Sie damit sagen?
Bei den Verhören wurden wir immer wieder gefragt, ob wir nicht nachgedacht und unsere Meinung über die Regierung und die Regierungspartei geändert hätten. Ich habe ihnen gesagt, ihr könnt mich hier 15 oder 20 Jahre einsperren und ich werde immer noch der Meinung sein, dass Nicaragua eine Demokratie braucht. Mir wurde sogar ein Posten im Staatsapparat angeboten.
Wie haben sich die Wärter verhalten?
Sehr professionell, manche richtiggehend freundlich. Die Menschen, die uns das Essen brachten, die waren ganz anders als die Polizisten, die uns verhörten und die strikt auf der Linie von Ortega und Murillo gedroht oder geschmeichelt haben.
Wie geht es Ihnen gesundheitlich?
Bei der Ankunft in Washington (USA) gab es einen kurzen Gesundheits-Check: Sie maßen uns den Puls und die Blutzuckerwerte. Einige Kollegen sind darauf gleich ins Krankenhaus gekommen. Durch den langen Entzug des Tageslichts habe ich Augenprobleme, und das Lesen fällt mir schwerer. Dann komme ich oft aus dem Gleichgewicht. Ich stoße manchmal gegen eine Wand oder ein Möbelstück. Manchmal muss ich mich festhalten. Zum Glück schlafe ich gut, aber am Nachmittag bin ich meist müde.
Wie sieht die Zukunft aus?
Das US State Department hat uns humanitären Aufenthalt für zwei Jahre zuerkannt. Dann können wir Asyl beantragen. Eine Arbeitsgenehmigung sollen wir wohl auch bekommen. Ich bin gerade dabei, die Unterlage einzureichen.
Mit 67 Jahren sind Sie ja im Pensionsalter. Aus Nicaragua werden Sie jedoch keine Rente kommen. Wie werden Sie wirtschaftlich überleben?
Nicaragua hat mir die Pension gestrichen, als ich festgenommen wurde. Das trifft auf uns alle zu, die wir in die Verbannung geschickt wurden. Unsere Personaldaten wurden aus den Archiven der Standesämter gelöscht, als hätten wir nie gelebt.
Sie haben ja zuletzt von Studien und Recherchen gelebt.
Immer weniger, denn ich stand ja schon auf einer schwarzen Liste von Personen, die man meiden sollte. Das erfuhr ich, als ich bei keiner Ausschreibung mehr zum Zug kam. Internationale Organisationen und NGOs haben mir dann den Grund genannt. Ich höre mich jetzt um, ob es bei irgendeiner Universität Möglichkeiten gibt. Davon hängt auch ab, ob ich in den USA bleibe oder nicht. Momentan ist alles sehr unsicher.
Und wie sieht Ihre politische Zukunft aus?
Ich strebe keine politische Position mehr an, aber ich wünsche mir sehr, dass das Land auf den demokratischen Pfad zurückkehrt. Ich bin ganz zufrieden mit meinem Dasein als Rentnerin. Besser gesagt: Ich war zufrieden.
Die Opposition in Nicaragua kann man heute mehrheitlich im Mitte-rechts- bis Rechts-Lager verorten. Welche Chancen hat die demokratische Linke?
So würde ich das nicht sehen. Unter den politischen Gefangenen waren solche und solche. Ich sehe in der Zukunft eher eine pluralistische Repräsentation. Wenn es uns gelingt, diese breite Allianz zusammenzuhalten, können wir es mit der Diktatur aufnehmen. Das ist derzeit unser Dilemma. In einer demokratischen Übergangsphase wird die demokratische Linke eine wichtige Rolle spielen. Deswegen werden die Mitglieder der Partei Unamos überall im Land so verfolgt. Festnahmewellen gab es 2021 und neuerlich im vergangenen November.
Unamos oder die Sandinistische Erneuerungsbewegung (MRS), wie die Partei früher hieß, hat auf nationaler Ebene nie mehr als 7 Prozent geholt. Warum fürchtet das Regime euch so sehr?
Es wurden uns immer Stimmen geraubt. Zweimal wurde das MRS verboten, weil da Wachstumspotenzial steckt. In den Verhören haben sie uns immer vorgeworfen, den zivilen Aufstand von 2018 orchestriert zu haben. Und was die Stärke betrifft, so waren wir in Managua und anderen Städten mehrheitsfähig. In Nicaragua hat es ja seit 2006 keine freien Wahlen mehr gegeben. Und auch jene Wahlen, die Ortega damals an die Macht zurückgebracht haben, waren nicht transparent. 8 Prozent der Stimmen wurden nie ausgezählt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um Termin für Bundestagswahl
Vor März wird das nichts
Energiepläne der Union
Der die Windräder abbauen will
Bewertung aus dem Bundesinnenministerium
Auch Hamas-Dreiecke nun verboten
SPD nach Ampel-Aus
It’s soziale Sicherheit, stupid
Wirbel um Berichterstattung in Amsterdam
Medien zeigen falsches Hetz-Video
Einigung zwischen Union und SPD
Vorgezogene Neuwahlen am 23. Februar