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Nicaragua schiebt politische Gefangene abÜberraschende Massenfreilassung

Die autoritäre Regierung Nicaraguas hat 222 Oppositionelle in ein Flugzeug Richtung USA setzen lassen. Es handelt sich um inhaftierte Menschenrechtler.

Unterstützer empfangen nicaraguanische politische Gefangene bei ihrer Ankunft am Flughafen in Washington Foto: Jose Luis Magana/AP

Wien taz | Es war eine Nacht-und-Nebel-Aktion. Donnerstag 5 Uhr Früh wurden über 220 politische Gefangene aus ihren Zellen in Nicaraguas Hauptstadt Managua und anderen Gefängnissen geholt. Mit Polizeikonvoi transportierte man sie zum Flughafen Augusto C. Sandino und verfrachtete sie in eine Chartermaschine, die wenige Stunden später in Washington landete.

Noch bevor die Oppositionellen in den USA eintrafen, trat die von Machthaber Daniel Ortega gegängelte Nationalversammlung zusammen, entzog mit 89 von 91 Stimmen den Freigelassenen auf Lebenszeit die politischen Rechte und sprach ihnen die Staatsangehörigkeit ab. Die gesetzliche Grundlage in Gestalt einer Verfassungsänderung, die es erlaubt „Vaterlandsverrätern“ die Staatsbürgerschaft zu entziehen, wurde nachgereicht. „Parlament deportiert 222 Vaterlandsverräter“ titelte die Online-Nachrichtenwebsite des Regimes El 19 digital.

Unter den Befreiten finden sich ehemalige Weggefährten Daniel Ortegas aus dem Guerillakampf der 1970er Jahre und der Revolutionsdekade wie Dora María Téllez und Víctor Hugo Tinoco, Oppositionelle wie Suyén Barahona und Támara Dávila von der linksliberalen Partei Unamos, Unternehmer, Geistliche, Universitätsprofessoren, Presseleute und Vertreter des eher rechten politischen Spektrums. Auch die aussichtsreichste Präsidentschaftskandidatin Cristiana Chamorro wurde aus dem Hausarrest entlassen. Bischof Rolando Álvarez, der seit August im Hausarrest interniert war und nächste Woche wegen „Verschwörung und Verbreitung von falschen Nachrichten“ abgeurteilt werden soll, lehnte den Deal Freiheit gegen Exil ab und weigerte sich, das Flugzeug zu besteigen. Statt im Hausarrest sitzt er jetzt im Gefängnis. Zwei weitere Geistliche sollen die Ausreise verweigert haben.

Wegen eines kritischen Tweets mehr als zehn Jahre Haft

Die meisten Gewissensgefangenen wurden vor mehr als anderthalb Jahren, wenige Monate vor den Wahlen vom November 2021, festgenommen. Verurteilt wurden sie nach eigens geschaffenen Gesetzen voller Gummiparagraphen, nach denen man für die Teilnahme an einer Demonstration oder einen kritischen Tweet wegen Vaterlandsverrats oder „Schädigung der staatlichen Souveränität“ zu mehr als zehnjährigen Haftstrafen verurteilt werden kann.

Die bisher größte Gefangenenbefreiung, die die USA bisher erwirkt haben, könnte als erster Schritt zur Normalisierung der Beziehungen verstanden werden

Viele von ihnen waren während der Haft permanenter Folter ausgesetzt: durch Einzelhaft in finsteren oder grell erleuchteten Zellen, willkürliche Verhöre mitten in der Nacht, schlechte Ernährung und Verweigerung medizinischer Behandlung. General Hugo Torres, der einst Daniel Ortega aus dem Gefängnis befreit hatte, starb vor einem Jahr an den Folgen der Misshandlungen. Fast alle waren blass und wirkten stark abgemagert.

Weder die Appelle von Amnesty International oder der Vereinigung von Angehörigen der politischen Gefangenen noch Vermittlungsversuche lateinamerikanischer Präsidenten hatten Ortega und seine zwielichtige Ehefrau und Vizepräsidentin Rosario Murillo zum Erfüllen der minimalen humanitären Bedingungen bewegen können. Letzten Endes dürfte es ein Deal mit den USA gewesen sein, der die Befreiung erwirkte, obwohl die Regierung Joe Bidens laut New York Times dem Kongress gegenüber von einer „einseitigen Entscheidung“ Managuas gesprochen hat.

Medizinische und psychologische Hilfe in den USA

Die USA haben mehr als 40 hochrangige Funktionäre und Mitglieder der nicaraguanischen Präsidentenfamilie mit Sanktionen belegt. Deren Aufhebung, so gab man Ortega zu verstehen, hänge vom Verhalten seiner Regierung ab. Die bisher größte Gefangenenbefreiung, die die USA bisher erwirkt haben, könnte als erster Schritt zur Normalisierung der Beziehungen verstanden werden.

Laut New York Times schickte Washington das Flugzeug und stellte 224 Visa aus. Die USA offerieren auch medizinische und psychologische Betreuung sowie die Übernahme der Lebenshaltungskosten für die Opfer des Regimes, die zunächst in einem Hotel in Washington untergebracht wurden. Die Abgeschobenen wollen ihre Ausbürgerung juristisch bekämpfen. Und die NGO Urnas Abiertas wies darauf hin, dass die Verbannung zu den international definierten Verbrechen gegen die Menschlichkeit zählt.

Kuriosität am Rande: Vor 18 Jahren hatten die USA Dora María Téllez, die für eine einsemestrige Vorlesung über Religion und Gesellschaft nach Harvard geladen war, wegen „terroristischer Aktivitäten“ – nämlich ihrer Teilnahme am Befreiungskampf – das Visum verweigert.

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1 Kommentar

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  • Obwohl die Freilassung der politischen Gefangenen eine große Erleichterung für diese und ihre Familien ist, deutet die Deportation und Aberkennung der Staatsbürgerschaft sowie die noch verbleibenden 39 politischen Gefangenen in Ortegas Kerkern auf keine grundlegende Veränderung der Repression der Diktatur hin. Das Schweigen vieler lateinamerikanischer Linker zu Ortegas Diktatur und damit ihrer klammheimlicher Duldung der Repression und Pervertierung ehemaliger revolutionärer Perspektiven erweist sich immer mehr als Bumerang in Ländern wie Ecuador, wo eine neoliberale, rechte Regierung die "linken" Diktaturen in Cuba, Venezuela und Nicaragua als Argument gegen soziale Bewegungen benutzt.

    Spätestens seit der Ernennung des neuen nicaraguanischen Botschafters, Maurizio Carlo Alberto Gelli, in Spanien, sollten die letzten Zweifel fallen, dass Ortega Regime international mit rechtsextremen und mafiösen Strukturen verbandelt ist:



    Maurizio Geli ist Sohn von Licio Gelli, dem berüchtigten Faschisten und Mafioso, Logia P2-Führer, der in internationale Skandale von Terrorismus und Geldwäsche (Ambrosius Bank) verwickelt war. Nach nur 3 Monaten Staatsangehörigkeit (2009) wurde Maurizio mit einem Diplomatenpass in die nicaraguanische Botschaft in Uruguay entsandt, danach als Botschafter nach Canada. Gegen Marizio Gelli war 1999 war wegen des Verdachts der Geldwäsche von 1,200 Millionen des Vermögens seines Vaters ermittelt worden.



    Die spanischen Medien sollten ein Auge auf diesen "Botschafter" und seine Kontakte zu rechtsextremen Kreisen in Europa haben.



    nicaraguainvestiga...caragua-en-espana/