Jubiläum von „In aller Freundschaft“: Tausendundeine Krankenhausnacht
Trotz bedrückender Corona-Berichte bleiben Serien über Ärzt*innen beliebt. Die ARD-Serie „In aller Freundschaft“ läuft nun zum 1.001 Mal.
Der persische Klassiker der Weltliteratur und Scheherazades 1.001 Erzählungen bekommen nun eine Schwester aus Sachsen: In der ARD läuft die 1.001. Folge der Serie „In aller Freundschaft“.
Seit 1998 läuft die Krankenhausserie des MDR auf den Bildschirmen deutscher Wohnzimmer. Bis auf „Schloss Einstein“ und „Die Falter“ gab es keine Serie länger im Programm des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. „In aller Freundschaft“ ist dabei so erfolgreich, dass es seit 2015 einen Ableger gibt: „Die jungen Ärzte“.
In den letzten 25 Jahren trotzte die Serie der Digitalisierung, konkurrierte erfolgreich mit Ami-Hits wie „Grey’s Anatomy“ und überlebte Netflix. Zum 1.000. Jubiläum schalteten fast sechs Millionen Menschen zur Primetime ein.
Ärzt*innenmangel bleibt unbeleuchtet
„In aller Freundschaft“ ist damit ein Quotengarant für die ARD, ein treuer Unterstützer wie Sancho Pansa für Don Quijote im Kampf gegen die Windräder der Streamingplattformen. Doch warum ist das so? Haben wir seit den bedrückenden Berichten aus überfüllten Krankenhäusern der letzten drei Pandemiejahre und wöchentlichen Coronatests und Nasenbohrern nicht genug von Menschen in Kitteln?
Deutschland liebt seine TV-Ärzt*innen. Die Schwarzwaldklinik löste in den Achtzigern einen Boom der patienten*innenliebenden und unbeschwerten Doktor*innen aus. Das Schwarzwälder Glottertal überrannten Fans aus aller Welt. Konkurrenz finden die Einschaltquote von 25 Millionen Menschen bis heute höchstens in Fußballfinalen.
Seitdem behandeln TV-Mediziner*innen auf Bergen oder unter Palmen, engagiert, aufmerksam und schnell. Doch mit der Fiktion kann die Realität nicht mithalten. Den Mangel an Ärzt*innen in Deutschland bilden sie kaum ab. Selten hat medizinisches Personal so viel Zeit wie die Schauspieler*innen, das ist klar. Wer mal Stunden im Wartesaal einer Praxis verbracht hat, kennt sicher trotzdem den Wunsch nach der bedingungslosen Hingabe von TV-Ärzt*innen. Die von den Serien geschürte Erwartungshaltung hat sogar einen eigenen Namen: „Grey’s Anatomy Effect“.
Die Serien rund um Desinfektionsmittel und Computertomografen sind kein deutsches Phänomen. Die Anfänger*innen bei Scrubs, der schmerzmittelabhängige Dr. Gregory House oder Meredith Grey und ihre Kolleg*innen des Seattle Grace Hospitals schnippeln und spritzen seit Jahren an Patient*innen herum – und sehen dabei auch noch verdammt gut aus.
Krankenhaus kann Erotik: Die pastellfarbene Arbeitskluft mindert keineswegs den Sexappeal von George Clooney und Co. Unterstützt werden erotische Fantasien beim Seriensuchten durch die Vielzahl an Affären, die in den TV-Krankenhäusern zelebriert werden.
Zwischen all den Flirts diagnostizieren sie nebenbei meist Krankheiten, die sonst nur Menschen kennen, die krank nach ihren Symptomen googeln. Selbst dann tauchen diese Krankheiten weit hinten auf. Gemeinsam ist ihnen aber: Sie klingen dramatisch – und beim Drama bedienen sich die Serien gerne.
Angst vor der OP begünstigt
Auch das hat Auswirkungen auf den realen Krankenhausalltag, wie eine Studie von 2009 erahnen lässt. Der Chirurg und Kommunikationswissenschaftler Kai Witzel befragte 162 Patient*innen zu ihrer Angst vor einer Operation an der Gallenblase oder eines Leistenbruchs und welche Erwartungen sie an ihre Behandlung hätten. Zudem sollten sie ihre Fernsehgewohnheiten und ihre Vertrautheit mit Arztserien angeben.
Witzel kam zu dem Ergebnis, dass Patient*innen, die häufiger Arztserien schauen, mehr Angst vor Operationen hätten.
Mehrere Studien aus den USA unterstützen die These. Sie verglichen die Todesrate bei Patienten*innen mit Schädel-Hirn-Trauma in der Realität und in den Krankenhausserien. Im TV-Studio starben 22 Prozent der Patient*innen, im echten Leben sind es 7 Prozent. Noch beachtlicher ist der Unterschied bei Notfalloperationen: 71 Prozent der Notfallpatient*innen im Fernsehen müssen sofort operiert werden, in der realen Notfallaufnahme sind es 25 Prozent.
Aber gerade dieses Ausloten von Tod und Schmerz macht den Reiz der Arztserien offenbar aus. Ohne selbst in Gefahr zu schweben oder die Angst zu spüren, eine geliebte Person zu verlieren, lässt sich in der Sachsenklinik oder im Behandlungszimmer von Dr. House die Grenzerfahrung Tod ein bisschen nachempfinden.
„Serien bieten einen Schutzraum, in dem man sich in Situationen hineinversetzen kann und vielleicht auch etwas darüber lernt, wie es einem selbst dabei gehen würde“, sagt der Medienpsychologe Leonard Reinecke im Deutschlandfunk. Protagonist*innen könnten zu Vorbildern und Wegbegleitern werden. Und das treibt „In aller Freundschaft“ auf die Spitze.
1.001 sind nicht genug
Seit der ersten Folge stehen Thomas Rühmann als Dr. Roland Heilmann und Alexa Maria Surholt als Sarah Marquardt vor der Kamera in der Sachsenklinik, in der fast niemand Sächsisch spricht. Einzig bei Hausmeister Ottmar Wolf schimmert Mundart durch. Die meisten Hauptfiguren sind seit Anfang der 2000er dabei. Karsten Kühn ist mit der Serie groß geworden und spielt seit seinem neunten Lebensjahr Dr. Heilmanns Sohn Jakob. Man feiert, trauert und altert zusammen.
Nach 25 Jahren haben die Figuren verwobenere Familienstammbäume als die Dynastien von Game of Thrones. Die inoffizielle Fanpage von „In aller Freundschaft“ umfasst rund 1.400 Seiten, in denen sämtliche Oberärzt*innen, Pfleger*innen und Azubis und teilweise sogar deren Blutgruppen aufgelistet ist. Eine weitere Website widmet sich ausschließlich der Familie Heilmann.
Wenn dieser unverwüstliche Dr. Heilmann die Serientode von Ehefrau und Tochter verkraftet, einen Flugzeugabsturz überlebt und Leukämie besiegt, dann ist das ein Signal an alle Zuschauer*innen: Du schaffst das – egal was.
Dabei schwingt sich der Tod verhältnismäßig selten durch die Drehtür der Sachsenklinik. Keine 50 Patient*innen starben in den 1.000 Folgen der ostdeutschen Heile-Welt-Klinik. Nach 45 Minuten haben Dr. Heilmann und sein Team die Kranken geheilt. Ein Spannungsaufbau, den berühmte Arztserien gemein haben: Eine Handlung ist innerhalb einer Folge abgeschlossen. Meist taumelt eine menschgewordene Krankheit oder Verletzung ins Klinikfoyer. Anschließend vergleicht das Arztteam Röntgenbilder und grübelt gemeinsam. Irgendwann steht die Diagnose, die Behandlung zeigt Wirkung und Zuschauer*innen können zufrieden den Fernseher ausschalten.
Und genau hier liegt einer der großen Unterschiede zwischen den 1.001 Geschichten von „In aller Freundschaft“ und den 1.001 Cliffhänger-Nächten von Scheherazade. Ein zweiter großer Unterschied: Nach 1.001 Nächten verschonte König Schahriyar sie. Die Gründe dafür unterscheiden sich in den verschiedenen Übersetzungen. In einer Version überzeugte Scheherazade den König von dessen Grausamkeit, in einer anderen gebar sie ihm in der Zwischenzeit drei Kinder. So oder so, sie musste nicht mehr weitererzählen.
Bei den insgesamt 85 Drehbuchautor*innen von „In aller Freundschaft“ hingegen ist nach 1.001 Folgen nicht Schluss. Bis 2026 hat die ARD schon mehr als 80 weitere Folgen geplant.
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