Berliner Wahlwiederholung am Sonntag: Wenn ganz viel an ganz wenig hängt
Die CDU dürfte die Abgeordnetenhauswahl gewinnen. Wer aber danach regiert, ist völlig offen – wenige Prozent entscheiden. Die taz gibt den Überblick.
26 zu 18 zu 17 – das war in der Sonntag veröffentlichten Wahlumfrage die Situation der drei größten Parteien: die CDU klar vor den nah beieinander liegenden Grünen und Sozialdemokraten. Das aktuelle links-grüne Bündnis erreicht dabei zwar weiter eine Mehrheit der Sitze im Abgeordnetenhaus. Aber die ist so gering wie noch nie. Bei der Wahl im September 2021, die nun gemäß Verfassungsgerichtsurteil wiederholt wird, kamen SPD, Grüne und Linkspartei noch auf 54,4 Prozent. Am vergangenen Sonntag waren es in einer Umfrage nur noch 47.
Dass das überhaupt für eine Mehrheit im Parlament reicht, hat folgenden Grund: 10 bis 12 Prozent der Stimmen gehen in den jüngsten Umfragen an Kleinparteien, die höchstwahrscheinlich jeweils unter 5 Prozent bleiben werden. Diese 5 Prozent – auch „Fünf-Prozent-Hürde“ genannt – sind aber nötig, um ins Parlament zu kommen. Das soll eine Zersplitterung des Parlaments wie in der Weimarer Republik verhindern.
44 Prozent der Stimmen reichen für die Mehrheit
Wer an dieser Hürde scheitert, dessen Stimmen fallen unter den Tisch. Relevant für die Sitzverteilung im Parlament sind dann etwa in der genannten Umfrage nur 88 Prozent. Für eine Mehrheit im Parlament braucht es dann folglich nicht 50,1 Prozent, sondern nur knapp über 44. Genau auf so viele Prozent und damit erstmals auf eine Mehrheit kommen in der Umfrage CDU und Grüne zusammen, für Rot-Schwarz reicht es knapp (noch) nicht.
CDU-Spitzenkandidat Wegner hat damit erstmals zumindest die rechnerische Chance, mit einem von ihm seit langem angestrebten schwarz-grünen Bündnis erster Regierender Bürgermeister der CDU seit 2001 zu werden. Damals musste sich Eberhard Diepgen nach dem Bankenskandal aus dem Roten Rathaus verabschieden, wo dann Klaus Wowereit (SPD) regierte. Im Senat waren die Christdemokraten seither nur einmal vertreten, von 2011 bis 2016 als Juniorpartner der SPD. Dass sie direkt vor einer Berlin-Wahl die Umfragen anführen, passierte bis jetzt nie wieder.
An Schwarz-Grün bastelt Wegner seit Langem und ist mit Grünen-Fraktionschef Werner Graf im Gespräch. „Werner und ich sprechen nicht nur über Hertha“, sagte Fußballfan Wegner im taz-Interview. Von grüner Seite heißt es dazu oft, Wegner suche diese Zusammenarbeit nicht aus Überzeugung, sondern allein aus strategischen Gründen, um nicht auf die SPD als Koalitionspartner angewiesen zu sein. Inhaltlich sei Wegner inkompatibel.
Der aber hat schon manches Mal überrascht. 2015 etwa war es nicht die stets als weit liberaler eingestufte prominente Kulturstaatsministerin Monika Grütters, die eine Foto-Aktion der Berliner CDU zur „Ehe für alle“ anführte, sondern Wegner als Generalsekretär des Landesverbands. Und die Grünen beschweren sich seit Langem über eine angebliche „Uns gehört die Stadt“-Haltung der SPD, die seit 2001 alle Senate angeführt hat.
Bleibt die SPD stärkste Kraft im linken Lager?
Die aktuelle Regierungschefin Franziska Giffey (SPD) wird sich nur im Amt halten können, wenn der aktuelle Trend zugunsten der CDU bis Sonntag knapp vor dem Verlust der rot-grün-roten Mehrheit stoppt – und ihre SPD stärkste Kraft im linken Lager bleibt. Fällt sie hinter die Grünen zurück, wird Giffeys Zeit als SPD-Landeschefin mutmaßlich am Sonntagabend vorüber sein. Mit Grünen und FDP als drittem Partner anstelle der Linkspartei zu koalieren und ein Ampelbündnis wie auf Bundesebene zu bilden dürfte allein schon wegen einer fehlenden Mehrheit nicht anstehen: Die FDP kämpft mit der oben erwähnten 5-Prozent-Hürde, weit weg von der Linkspartei, die konstant bei 11 bis 12 Prozent liegt.
Grünen-Spitzenkandidatin Bettina Jarasch hat ebenfalls nur eine Option, ins Rote Rathaus zu kommen, nämlich Grün-Rot-Rot. Die Chance dazu ist weiter da und aktuell ähnlich groß wie die, dass Giffey Regierungschefin bleibt. Landen die Grünen erneut hinter der SPD und verfehlen damit wiederum ihr Wahlziel, bleibt abzuwarten, was das für Jarasch heißt. „Ich werde diese zweite Chance nutzen“, versprach sie in der taz, als sich im Herbst die Wahlwiederholung deutlich abzeichnete.
Innerhalb des Grünen-Landesverbands hat die lange als Reala eingestufte Jarasch, als praktizierende Katholikin und langjährige Vorsitzende des Pfarrgemeinderats von St. Marien-Liebfrauen dort ohnehin eine Exotin, keine Hausmacht. Wenn der dominierende linke Flügel meint, sie nicht mehr zu benötigen, könnte ihr Posten als Verkehrssenatorin auch bei einer fortgesetzten rot-grün-roten Koalition in Frage stehen. Dass Dankbarkeit für langjährige Kärrnerarbeit keine Kategorie bei den Grünen ist, erfuhr Jarasch schon, als sie sich nach fünf Jahren als Landesvorsitzende 2017 vergeblich um die Berliner Bundestagsspitzenkandidatur bewarb.
Kai Wegner mag zwar auch darauf hoffen, die mit der SPD unzufriedenen Grünen aus einem möglichen, aber absehbar weiter – etwa über Enteignung – streitenden Dreierbündnis in eine schwarz-grüne Koalition zu ziehen. Ein Argument dafür: Darin gäbe es deutlich mehr Senatsposten für die Grünen als im bisherigen Bündnis. Aber zumindest gegen Ende des Wahlkampfs schienen die Positionen so verhärtet, dass sich die Grünen kaum ohne Not der CDU annähern dürften.
Für die SPD gilt das nur mit Abstrichen. Kleiner Partner unter den dann triumphierenden Grünen, weiter mit der Linkspartei? Da könnte ein Zweierbündnis mit der CDU lukrativer erscheinen. Umso mehr, als die SPD zumindest in bisheriger Besetzung im Senat an vielen Stellen nicht weit weg von der CDU ist. Eine Innensenatorin, die eine Polizeiwache am Kottbusser Tor einrichten lässt, sich wann immer möglich schützend vor die Polizei stellt und gegen den Willen der Linkspartei Bodycams in Massen kaufen will, kann die CDU kaum überbieten.
Gleiches gilt für die Bereiche Wohnungsbau und teilweise im Verkehr. Auch die SPD lehnt die von den Grünen angestrebte Parkplatzhalbierung und ein hartes Zurückdrängen des Autos ab. Allein beim von der CDU unterstützten Weiterbau der A 100 tun sich Gräben auf: Giffey gilt da zwar als offen, aber sie würde bei einer SPD-Juniorpartnerschaft keine Rolle mehr spielen – eine Ministerpräsidentin als einfache Ministerin im nächsten Kabinett ist nicht vorstellbar. Der SPD-Landesverband hingegen hat einen A100-Weiterbau über die Spree hinaus im Sommer 2022 bei einem Parteitag abgelehnt.
Kurzum: Sehr viel hängt an sehr wenigen Prozentpunkten. Setzt sich der aktuelle Trend fort und vergeht die noch bestehende rot-grün-rote Mehrheit, bekommt Berlin seinen ersten CDU-Regierungschef seit 22 Jahren. Wenn nicht, hängt es vom jeweils Zweitplatzierten im linken Drei-Parteien-Lager ab, als Juniorpartner Giffey oder Jarasch zur Chefin zu machen – oder lieber in einer überschaubareren Zweierkoalition Wegner zu stützen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kritik am Deutschen Ethikrat
Bisschen viel Gott
Trumps Krieg gegen die Forschung
Bye-bye, Wissenschaftsfreiheit!
Menschenrechtsverletzungen durch Israel
„So kann man Terror nicht bekämpfen“
Altvordere sollen Linke retten
Hoffen auf die „Silberlocken“
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos