Montagsinterview mit Berlins Ex-Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU): "Ich hätte ins Ausland gehen sollen"

16 Jahre lang regierte Eberhard Diepgen Berlin. Mit dem Bankenskandal machte der Christdemokrat - unfreiwillig - den Weg frei für Rot-Rot. Nun entdeckt er seine Sympathie für die Grünen.

Eberhard Diepgen Bild: Anja Weber

taz: Herr Diepgen, als Regierender Bürgermeister haben Sie der taz kein Interview gegeben.

Eberhard Diepgen: Habe ich das wirklich nicht gemacht? Das kann schon sein. taz-Leser galten als politisch festgelegt.

Gab es früher Feindbilder, die man heute nicht mehr braucht?

Viele Feindbilder haben sich abgenutzt. Einige feiern aber Auferstehung. Schauen Sie auf die Reaktionen nach dem Schlichterspruch zu Stuttgart 21. Ich halte nichts von diesen Reflexen.

Feindbilder stören auch, wenn man neue Bündnispartner sucht. Sie sind mittlerweile Befürworter von Grün-Schwarz.

Ob Schwarz-Grün oder Grün-Schwarz sei einmal dahingestellt. Bei allem tagespolitischen Streit sehe ich viele Gemeinsamkeiten. Das gilt insbesondere für die grünen Wähler, nicht so deutlich für die Funktionäre der Partei. In den Berliner Grünen steckt noch sehr viel alte Westberliner Alternative Liste.

Grün ist für Sie weniger alternativ als bürgerlich?

Das Wählerpotenzial der Grünen heute ist stark konservativ geprägt. Es liebt die Denkmalspflege manchmal mehr als ich. Dieses Klientel verdient gut, konsumiert, ist gebildet. Es fordert eine andere Bildungspolitik als grüne Parteiführungen. Die grünen Bildungsbürger wollen das Gymnasium und schicken ihre Kinder - trotz aller Bekenntnisse zur Förderung von sogenannten bildungsfernen Schichten - im Zweifelsfall nicht in Nordneukölln auf die Schule.

Sie beschreiben die oft zitierte Koalition der Operngänger.

Kind der Teilung: Eberhard Diepgen wird 1941 in Pankow geboren und wächst in Wedding auf. Den Mauerbau und die deutsche Teilung erlebt er aus nächster Nähe. Später studiert er Jura an der Freien Universität und engagiert sich beim Ring Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS).

Regierender Bürgermeister: 1980 wird Diepgen CDU-Fraktionschef im Abgeordnetenhaus. Nach dem Wechsel Richard von Weizsäckers in das Amt des Bundespräsidenten 1984 folgt Diepgen ihm als Regierender Bürgermeister nach. Im Januar 1989 muss er die Macht an Walter Momper und Rot-Grün abgeben. Nach dem schnellen Ende dieser Koalition gelingt Diepgen Ende 1990 das Comeback.

Bankenskandal: 2001 gerät Diepgens politischer Weggefährte, der CDU-Fraktionsvorsitzende Klaus-Rüdiger Landowsky, wegen einer Spendenaffäre in den Fokus der Öffentlichkeit. Das bringt auch die Krise um die Bankgesellschaft ins Rollen. Die SPD kündigt die Koalition auf. Bei vorgezogenen Neuwahlen wird die CDU im Oktober 2001 mit knapp 24 Prozent abgestraft. Eberhard Diepgen wird abgewählt. Im Dezember legt er auch den CDU-Landesvorsitz nieder.

Das ist doch nur ein Kampfbegriff. Außerdem zeigt die CDU - jedenfalls in Berlin - ein stärkeres soziales Engagement als die Grünen. Allerdings haben wir in Berlin eine Fülle von Problemen. Für klare Alternativen zur SPD gibt es in der Stadt ausreichende schwarz-grüne Schnittmengen in ökologischer Wirtschafts- und Industriepolitik, bei städtebaulichen Modellvorhaben. Da kann man einzelne Konflikte mit guten Argumenten vertagen, etwa einzelne Verkehrsprojekte.

Sie meinen den A-100-Weiterbau, den die Grünen ablehnen.

Man muss nicht jedes Verkehrsprojekt sofort umsetzen. Aber gerade hier bietet sich das Modell "Schlichtung Geißler" oder eine Volksabstimmung an.

Die CDU hat das alte Westberlin abgestreift, nun müssen nur noch die Grünen die Alternative Liste entsorgen - und los kann es gehen?

Auch die Grünen müssen an ihrer Regierungsfähigkeit arbeiten. Aber: Tun Sie mir den Gefallen und reden Sie nicht so provokant vom alten Westberlin.

Gerade Sie stehen doch für dieses alte Westberlin.

Mit "altes Westberlin" wird die historische Bedeutung dieser Teilstadt kleingemacht. Mein Ziel war auch immer eine Politik für das ganze Berlin.

Sie wollen also nicht als der Regierende Bürgermeister Westberlins in die Geschichtsbücher eingehen?

Bei aller Demut: bitte im Zusammenhang mit dem Hauptstadtbeschluss, den großen städtebaulichen Entscheidungen nach dem Fall der Mauer und dem Zusammenwachsen Berlins nach der Teilung. Und vor dem Fall der Mauer: für eine neue Lebenskraft des Westteils der Stadt.

Sie haben Berlin insgesamt 16 Jahre regiert, länger als alle anderen. Doch zum Zeitpunkt des Mauerfalls waren Sie nicht im Amt. Tut das weh?

Im Nachhinein weniger als zum Zeitpunkt des 9. November 1989. Ich sage es ganz offen: Damals war ich richtig frustriert. Da wurde ich lange gescholten, weil ich für das Offenhalten der deutschen Frage war …

und dann kommt ein Sozialdemokrat und steht im Mittelpunkt des Geschehens.

Ein Senat, der die deutsche Wiedervereinigung nicht wollte. Das war ärgerlich. Walter Momper kriegte erst Mitte 1990 die Kurve.

Sie sind in Pankow geboren, haben lange in Wedding gelebt. Wie stark hat die Teilung der Stadt Ihr Leben geprägt?

Ich bin unmittelbar an der Grenze groß geworden. Zuerst an der Wollankstraße, dann am Bahnhof Gesundbrunnen. Mit der S-Bahn bin ich immer ab Bornholmer Straße gefahren, da war es billiger. Oft war ich im Ostsektor, in Pankow besuchte ich die Tanzstunde. Die Teilung Berlins hat das Leben mitbestimmt. Stark geprägt haben mich auch der Volksaufstand 1953 und noch mehr die Ereignisse 1956 in Ungarn.

Da waren Sie 15 Jahre alt.

Damals habe ich mir mein erstes Geld mit dem Austragen von Zeitungen verdient, ein kleines Radio gekauft, das habe ich heute noch. An diesem Radio hing ich bis in die Nacht und hörte die Hilferufe aus Budapest.

Wo waren Sie am 13. August 1961?

Zu Hause am Gesundbrunnen. Vom Fenster konnte ich Absperrarbeiten beobachten. Ich war an der Bernauer Straße. Noch stärker sind die Bilder von den Tagen danach. Ich arbeitete als Werkstudent bei Siemens. Ein Arbeitskollege aus dem Ostteil kam noch zur Schicht. Immer quälte er sich: Gehe ich nach Hause, bleibe ich? Ein Tag, zwei Tage, am dritten Tag blieb er weg.

Welche Folgen hatte dieses Erlebnis für Ihre politische Überzeugung? Gegen die Kommunisten, hüben und drüben?

Für den freien und verantwortlichen Bürger. Gegen ein System mit totalitärem Machtanspruch. Aktive Deutschlandpolitik stand bei mir neben den sozialen Fragen im Mittelpunkt. Dabei kenne ich Arbeitslosigkeit aus der eigenen Familie - und vom Zeitungsaustragen und Kassieren eine Armut, die sich mit den heutigen Begriffen nicht vergleichen lässt.

Sie waren gegen die Kommunisten auf der anderen Seite. Und dann halten plötzlich auch Westberliner rote Fahnen hoch. Das muss für Sie die Fünfte Kolonne gewesen sein.

So simpel war das nicht. Aber zwei Anmerkungen. Erstens: Vergessen Sie nicht, dass die freiheitliche Existenz von Berlin (West) von den Amerikanern abhängig war. Eine antiamerikanische Position hat damals bei den Berlinern kein Verständnis gefunden. Und zweitens wissen wir heute, dass es engere Verbindungen zwischen einzelnen Aktivisten der APO und der Stasi gegeben hat, als ich das damals für möglich gehalten habe.

Haben Sie nie daran gedacht, dass 68 auch ein zivilisierendes Potenzial hatte? Es gab ja auch die Auseinandersetzung mit der Verstrickung der Elterngeneration in den Faschismus.

Studentischer Protest ist nicht erst 1968 entstanden. Auch die Auseinandersetzung mit dem Naziregime begann vorher. Als Studentenvertreter gehörte ich zu denen, die das Hochschulgesetz reformieren wollten und den Zugang von bildungsfernen Schichten forderten. Damals war für uns das katholische Landmädchen aus dem Rheinland der Inbegriff der Benachteiligung.

Ihr sozialpolitisches Engagement haben Sie 2003 in der Feindes-taz unter Beweis gestellt. Sie haben gegen die neoliberale Politik des rot-roten Senats gewettert.

Da habe ich nichts zurückzunehmen. Wir dürfen ein weiteres Auseinanderdriften der Gesellschaft nicht hinnehmen.

Sind Sie da der SPD nicht näher als den bürgerlichen Parteien Grüne und CDU?

Will ich Gleichheit oder Chancengleichheit? Uralt, aber immer noch aktuell sind diese Grundsatzfragen zwischen den Volksparteien.

Sie meinen Grüne und SPD.

Na ja. Noch ist die SPD neben der CDU die entscheidende Volkspartei. Die Grünen zeigen Tendenzen zu einer Klientelpartei der gut verdienenden Mittelschicht. Für die Bundespolitik und die Veränderung der Sozialversicherungssysteme scheint mir eine mindestens heimliche Koalition der Volksparteien notwendig. Sonst werden die Spannungen in der Gesellschaft zu groß.

Sie bevorzugen im Bund eine große Koalition statt Schwarz-Gelb?

(lacht) Als Ehrenvorsitzender der Berliner CDU verweigere ich die Aussage. Außerdem hat sich die SPD verändert. Von Steinbrück und Steinmeier konnte man noch guten Gewissens einen Gebrauchtwagen kaufen.

Ist das nach dem verpassten 9. November als Regierender Bürgermeister Ihr zweiter neuralgischer Punkt: dass die SPD sich mit der PDS 2001 in Berlin einfach einen neuen Koalitionspartner gesucht hat?

Wenn Sie von meinen neuralgischen Punkten sprechen …

Sie waren sehr enttäuscht.

Ich war menschlich von einzelnen langjährigen Senatskollegen enttäuscht. Ich hatte Verständnis für die Position, dass die Sozialdemokraten der Gefangenschaft mit der CDU entrinnen wollten. In der Koalition waren sie immer schwächer geworden, und in Klaus Wowereit hatten sie denjenigen gefunden, der sie aus dieser babylonischen Gefangenschaft befreien wollte. Da hätten sich einzelne Kollegen ihre Schwüre, sie würden nie mit der PDS in ein Boot klettern, sparen können.

Jetzt reden Sie über Klaus Wowereit, wo Sie doch eigentlich über den Bankenskandal und Klaus-Rüdiger Landowsky sprechen müssten. Haben Sie an ihm zu lange festgehalten?

Ja. Wobei man fragen muss: Was war machbar? Vielleicht hätte ich mit Rücktritt drohen müssen. Der Sozialdemokratie ist es danach gelungen, die Verantwortung für die Bankenkrise bei der CDU abzuladen, obwohl alle politisch Verantwortlichen für die Bank, vom Aufsichtsrat bis zu den zuständigen Senatsverwaltungen, sozialdemokratisch besetzt waren.

Sie waren der Regierende Bürgermeister.

Der in keinem dieser Gremien saß. Aber nach den demokratischen Regeln hatte ich politische Verantwortung.

Sie haben 16 Jahre Berlin regiert. Ein Workaholic, der plötzlich auf Entzug war. Wie sind Sie damit umgegangen?

Heute weiß ich, dass man einen Neuanfang mit ein oder zwei Jahren Auslandsaufenthalt einleiten sollte.

Warum?

Abstand gewinnen, nicht ständig mit dem früheren Aufgabenbereich konfrontiert werden. Das war schwieriger als der veränderte Alltag. Im Zweifel meint man ja auch immer, es besser zu wissen.

Wie haben Sie Ihr Leben danach neu strukturiert?

Mein Vorteil war, dass ich sofort wieder als Anwalt arbeiten konnte.

Konnten Ihre Frau und Ihre Kinder damit umgehen, dass Sie plötzlich so viel Zeit hatten?

Meine Frau war glücklich, dass ich immer mal wieder ins Büro entschwunden bin. Dazu kommen ehrenamtliche Aufgaben.

Hat es Sie gekränkt, dass man Ihnen immer das Etikett "der blasse Eberhard" anhängte?

Ich bitte Sie! Das war ein Kampfbegriff im Wettstreit mit Hanna "Granata" Laurien um die CDU-Kandidatur 1984. Vor dem Journalisten-Club habe ich damals am Beispiel des Spargels Blässe als Qualitätsmerkmal herausgestellt.

Nach Ihrem Ausscheiden aus dem Amt haben Sie mit ansehen müssen, wie die CDU in die Bedeutungslosigkeit rutschte.

Es gab zwar eine kurze Stabilisierungsphase mit Friedbert Pflüger. Aber erst mit Frank Henkel hat sie Tritt gefasst und war bei den letzten Bundestags- und Europawahlen stärkste Kraft.

In Berlin liegt Ihre Partei derzeit bei 18 Prozent.

Die CDU hat sich inhaltlich und organisatorisch stabilisiert. Sie hat aber noch ein Problem mit der Selbstdarstellung, und im Augenblick konzentriert sich die Aufmerksamkeit noch auf das vermeintliche Duell Wowereit gegen Künast.

Ist das nicht ein Hinweis darauf, dass die CDU das Lebensgefühl der Stadt nicht versteht?

Die Union insgesamt hat ein Problem mit dem Lebensgefühl der aufsteigenden Mittelschicht. Daran muss sie arbeiten.

Sind Sie ein glücklicher Mensch?

Puh. Glück ist eine Frage des Augenblicks. Ich bin zufrieden.

Wären Sie noch zufriedener, wenn ab September 2011 eine grün-schwarze Koalition die Stadt regieren würde?

Eine schwarz-grüne Koalition wäre mir lieber.

Hat das Scheitern von Schwarz-Grün in Hamburg diese Hoffnungen nicht begraben?

Nein. Nach den vielen Wahlen im kommenden Jahr können schwarz-grüne Koalitionen und erst recht grün-schwarze Koalitionen grünen Parteiinteressen entsprechen. Selbst das besondere Berliner Problem kann sich lösen.

Und das heißt?

Alte Alternative Liste.

Da müssten Ihnen beim Gedanken an einen grünen Innensenator Volker Ratzmann die Haare zu Berge stehen.

Im Amt lernen alle dazu. Es muss sogar nicht immer so viel sein wie bei Herrn Schily.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.