Hamburg diskutiert Messerattacke: Ein tödlicher Mensch
Hamburgs Bürgerschaft diskutiert über Messerangreifer von Brokstedt: Wie kam es dazu, dass er frei herumlief? Justizsenatorin muss sich rechtfertigen.
Doch wie konnte es dazu kommen, dass der mehrfach straffällige, obdachlose und psychisch auffällige Ibrahim A. ohne Auflagen aus der Hamburger Untersuchungshaft entlassen wurde? Hätte die Justiz anders mit dem Geflüchteten umgehen müssen und damit das Attentat verhindern können? Diesen unbequemen Fragen musste sich die bisher auffällig schweigsame Justizsenatorin Anna Gallina (Grüne) im gestrigen Justizausschuss der Hamburgischen Bürgerschaft stellen.
Von allen Seiten wurden die Anfeindungen gegen Gallina und den Umgang ihrer Justizbehörde mit dem Attentäter von Brokstedt lauter. Der Vorwurf: Es habe Anzeichen gegeben, dass Ibrahim A. eine Zeitbombe ist.
Diese hätten die Hamburger Behörden ignoriert und nicht an die zuständige Ausländerbehörde in Kiel weitergeleitet, wie Schleswig-Holsteins Integrationsministerin Aminata Touré (Grüne) Senatorin Gallina am Mittwoch vorwarf. Im Justizausschuss konnte Gallina diesen Vorwurf ausräumen. Auch die übrigen Anschuldigungen im Umgang mit Ibrahim A. wies sie zurück.
Dicke Strafakte
Schon wenige Monate, nachdem Ibrahim A. im Dezember 2014 aus Gaza nach Deutschland geflüchtet war, wurde er straffällig: Die lange Strafakte beginnt mit einem Diebstahl im nordrhein-westfälischen Euskirchen. Ibrahim A. wird mehrmals angeklagt – wegen Drogenmissbrauchs, sexueller Nötigung und gefährlicher Körperverletzung. Nicht immer wird er verurteilt, nicht immer werden die Verfahren beendet.
Was bei den mindestens zwölf Straftaten, die A. vorgeworfen werden, auffällt: Immer häufiger griff der heute 33-Jährige als Tatwaffe zu einem Messer. Als er im November 2021 in einer Kieler Geflüchteten-Unterkunft Mitbewohner bedroht und auf dem Flur mit einem Messer hantiert haben soll, bekommt er ein Hausverbot. Seitdem war Ibrahim A. wohnungslos.
Als Folge des Vorfalls entzog ihm das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) auch seinen Aufenthaltstitel – den subsidiären Schutzstatus. Diesen Schutz bekam er 2017, weil ihm nach Angaben des Bamf weder Flüchtlingsschutz noch Asyl zustehe, sein Leben im Gazastreifen aber gefährdet sei.
Warum war der Attentäter von Brokstedt dann überhaupt noch in Deutschland, wenn er gar keinen Aufenthaltstitel mehr hatte? „Solche Leute sollen abgeschoben werden“, forderte die fraktionslose Bürgerschaftsabgeordnete Anna-Elisabeth von Treuenfels-Frowein am Mittwoch in der Hamburger Bürgerschaft. Die hiesigen Gesetze geben ihr Recht, sie hätten eine Abschiebung von A. vorgesehen.
Denn damit der subsidiäre Schutz vor Gefahr im Ausland endet, genügt es nach deutschem Recht, eine „Gefahr für die Allgemeinheit“ darzustellen. Doch so einfach ließ sich der Palästinenser nicht abschieben. Das Problem: Weder die Hamas in Gaza noch Israels Regierung wollten ihn zurück. Also blieb Ibrahim A. in Deutschland.
Egal, wo sich Ibrahim A. in Deutschland aufhielt, geriet er in das Visier der Justizbehörden: Ohne gemeldeten Wohnsitz tauchte der Palästinenser immer wieder unter und durch Straftaten wieder auf. So auch am 18. Januar 2022 in Hamburg.
Vor der Essensausgabe in der Obdachlosenunterkunft Herz As geriet A. mit einem Mann in einen Streit und verletzt ihn mit einem Klappmesser an Armen, Händen und dem Hals, wie aus Gerichtsdokumenten hervorgeht. Wenige Stunden danach soll er aus einem Supermarkt Lebensmittel gestohlen haben. Zwei Tage später, als A. einem Kontrahenten in der Drogenhilfeeinrichtung „Drob Inn“ am Hauptbahnhof mit einem Klappmesser auf den Kopf geschlagen haben soll, wurde der Geflüchtete festgenommen.
Wegen Verdachts auf gefährliche Körperverletzung beim Herz As und Diebstahls kam Ibrahim A. in Untersuchungshaft in die Justizvollzugsanstalt (JVA) Billwerder. Erst sieben Monate später wurde er vom Amtsgericht St. Georg zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und einer Woche verurteilt.
Alkohol und Drogen strafmildernd
„Wie kann es sein, dass jemand, der mutmaßlich mit einem Messer mehrfach auf einen anderen Mann eingestochen habe, lediglich zu einer so milden Freiheitsstrafe verurteilt wird?“, fragte der Bürgerschaftsabgeordnete Dennis Thering (CDU). Tatsächlich führt das Amtsgericht St. Georg in dem Urteil eine Reihe strafmildernder Faktoren auf.
Ibrahim A. soll bei der Tat unter Einfluss von Alkohol, Heroin und Kokain gestanden haben, dadurch sei er enthemmt gewesen. Auch seien „die Haftbedingungen für den Angeklagten besonders schwer“ gewesen. Er sei der deutschen Sprache nicht mächtig, heißt es in dem Urteil. Während der Haft entwickelte Ibrahim A. Schlafprobleme.
Die Freiheitsstrafe konnte nicht zur Bewährung ausgesetzt werden. Ibrahim A. fehle eine „günstige Sozialprognose“, urteilte das Gericht. Er habe in Hamburg weder ein „tragfähiges soziales Netz“ noch einen Beruf oder die Möglichkeit, sich seinen Lebensunterhalt zu finanzieren. Die Wahrscheinlichkeit, dass Ibrahim A. wieder straffällig werde, sei höher als die Chance, dass er sich gesetzestreu verhalte.
Auch die Vorstrafen des Angeklagten aus Nordrhein-Westfalen fielen ins Gewicht. Und Ibrahim A. sei ein „Drogenkonsument, wobei er keine Notwendigkeit für eine Therapie anerkennt.“ Weil der Angeklagte A. Berufung gegen das Urteil einlegte, wurde es nie rechtskräftig. Ibrahim A. blieb in der Untersuchungshaft der JVA Billwerder.
Psychiatrisch als ungefährlich beurteilt
Ibrahim A. war kein Vorzeige-Häftling: Nach Angaben der Hamburger Justizbehörde soll er in der JVA Billwerder zuerst einen Mithäftling angegriffen haben, zwei Monate später warf Ibrahim A. eine Tasse mit warmem Tee auf einen Vollzugsbeamten. Der Tatverdächtige A. kam in Isolationshaft und wurde seither „durchgängig“ psychiatrisch betreut. Auch weil Ibrahim A. während seiner Haft Stimmen hörte, wie die Justizsenatorin Gallina erklärte.
Ohne, dass es bis dahin zu der Berufungshauptverhandlung gekommen war, wurde A. nach genau einem Jahr aus der Haft entlassen. Der Grund: Die Dauer der Untersuchungshaft darf nicht länger sein, als die Strafe maximal andauern würde. Doch wie konnte es sein, dass Ibrahim A. ohne weitere Auflagen aus der U-Haft entlassen wurde?
Im Justizausschuss machte es sich Anna Gallina mit ihrer Antwort leicht: Weil der Haftbefehl gegen Ibrahim A. so kurzfristig aufgehoben worden sei hätten ihm keine Auflagen erteilt werden können. Die JVA Billwerder hatte es lediglich geschafft, Ibrahim A. noch eine Methadon-Behandlung zu organisieren und ihn kurz vor seiner Entlassung von einem Psychiater begutachten zu lassen.
Das Ergebnis: Von Ibrahim A. gehe keine Fremd- und Selbstgefährdung aus. „Es handelte sich dabei nicht um eine Prognose“, betonte Gallina immer wieder.
Durchs Raster gerutscht
Ibrahim A. fiel bei seiner Entlassung also wieder durch das Raster – dieses Mal durch das des Resozialisierungs- und Opferhilfegesetzes. Nach diesem „bundesweit vorbildlichen“ – wie Gallina es im Ausschuss nannte – Gesetz steht Untersuchungsgefangenen kein umfassendes Übergangsmanagement zu.
Lediglich seien „individuell zugeschnittene Beratungs- und Unterstützungsangebote“ möglich. Im Fall des Attentäters hieß das: Ein Übernachtungsangebot im Winternotprogramm und ein Perspektivgespräch. Beides soll Ibrahim A. wahrgenommen haben.
Den Vorwurf, ihre Behörde habe versäumt, bestimmte Informationen über Ibrahim A. an die Ausländerbehörde in Kiel weiterzuleiten, wies Gallina mit Blick auf die „klare Aktenlage“ von sich: Sowohl die JVA Billwerder, wie das Oberlandesgericht als auch die Polizei hätten die zuständige Ausländerbehörde in Kiel mehrfach telefonisch und per Mail über das Verfahren im Fall Ibrahim A. informiert.
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