Moskauer Tagebuch: Gehen oder bleiben
Bedrohung, Willkür und Demütigung, aber auch Poesie, Philosophie und Freude – alles gibt es in Moskau. Viele hadern mit der Situation. Ein Einblick.
Ich habe unsere Stadt schon in der unterschiedlichsten Verfassung gesehen: fröhlich, traurig, eingeschüchtert, erzürnt, protestierend, resigniert. Gegenwärtig erscheint sie mir zähflüssig und klebrig: Anscheinend ist hier alles möglich – und gleichzeitig nichts.
Am Abend des 24. November 2022 war ich im Otkrytoje Prostranstwo (Open Space) bei einem Lyrikabend. Das Otkrytoje ist eine zivilgesellschaftliche Einrichtung, eine Mischung aus Co-Working-Space, Diskussionsraum, ein Ort für Ausstellungen, Filmvorführungen, Selbsthilfegruppen und ähnliche Aktivitäten. Mit der Veranstaltung wollte man Anwaltskosten für die „Tjumener Strafsache“ vom September 2022 sammeln, von der es heißt, sie sei „der zweite Netzwerkfall“. Beide Male ging es um Folter von Gefangenen aus dem anarchistisch-antifaschistischen Spektrum.
Die Novaya Gazeta ist Russlands älteste unabhängige Publikation. Nach Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine wurde sie verboten. Das Team der Novaya Gazeta Europe hat das Land verlassen, um ihre Arbeit fortsetzen zu können und denjenigen eine Stimme zu geben, die die Invasion niemals akzeptieren werden. In diesem Dossier veröffentlicht die taz Texte russischer Journalist:innen über das erste Kriegsjahr und seine Folgen für die Welt und für Russland, über die Veränderungen in der russischen Bevölkerung, wofür das Adjektiv „russisch“ heute und in Zukunft steht, und berichten über Menschen, die Widerstand leisten. Die Texte sind auf Initiative der taz Panter Stiftung entstanden und geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Es ist bereits das zweite Dossier mit Texten der Novaya Gazeta Europe in der taz. Das erste ist im Mai 2022 erschienen. Die Texte des ersten Dossiers finden sich hier.
Neben Gedichten gab es einen Büchertisch und veganes Essen. Um kurz vor halb acht drangen mehr als zwanzig mit Sturmhauben maskierte Männer in den Raum ein, mit Schlagstöcken ausgestattet, in schwarzen Uniformen ohne Abzeichen. Zuerst schmissen sie wahllos alle Tische um. Frauen und Mädchen mussten sich mit dem Gesicht zur Wand aufstellen, Jungen und Männer auf den Boden legen, Gesicht nach unten: „Hände hinter den Kopf, nicht umdrehen, nicht sprechen!“
Schwer zu sagen, wie viele Stunden wir da so gelegen haben, aber die Uniformierten schikanierten uns verbal und physisch, traten uns mit Stiefeln, ich schätze mal ungefähr vier Stunden lang. Dann folgte der Gesinnungscheck: Personen in Zivil, die an Mitarbeiter des Zentrums E (Zentrum für Extremismusbekämpfung; Sondereinheit der Polizei, auf Überwachung und Verfolgung von Oppositionellen spezialisiert; d. Red.) erinnerten, verhörten alle ohne Protokoll.
Anschließend wurden alle Handy-Gerätenummern (IMEI) notiert, alle Anwesenden fotografiert und dann aufs Revier gebracht. Auch dort gab es keine Protokolle, die Festgenommenen gaben schriftliche Erklärungen ab und wurden zwischen drei und vier Uhr morgens entlassen. In Moskau war es eisig kalt. Mich schauderte es allein bei dem Gedanken daran, zur Nachtbusstation zu laufen. Aber die Mädchen riefen ein Taxi. „Und, hast du den Eindruck, dass du gerade einen Terroranschlag überstanden hast?“, fragte eine.
Damals habe ich nur mit den Schultern gezuckt, aber heute denke ich, dass es wirklich so etwas in der Art war: eine nicht näher bestimmbare bewaffnete Gruppe von Personen, die ihre Gesichter und ihre Identitäten verbargen, überfiel eine völlig friedliche Zusammenkunft, bei der junge Poeten Gedichte lasen. Sie malträtierten und bedrohten uns, stundenlang wussten wir nicht, wann wir wieder freikommen würden – heute, morgen, in zehn Tagen oder in zehn Jahren.
Ganz bewusst werden die Einwohner Moskaus schon seit Langem eingeschüchtert und terrorisiert: durch neue Gesetze, vom Präsidenten unterzeichnete Dekrete, durch die brutale Auflösung von Demos und Mahnwachen, demonstrative Festnahme mithilfe von Aufnahmen öffentlicher Überwachungskameras und Razzien im Zuge der sogenannten Teilmobilisierung, deren Ende nicht absehbar ist.
Wenn der Bewegungsradius schrumpft
Was hält uns hier eigentlich noch? Warum haben wir nicht rebelliert? Warum sind wir nicht wenigstens einfach gegangen?
Ich erinnere mich an den Film „Sie küssten und sie schlugen ihn“ von François Truffaut: Es geht um 13- bis 14-jährige Jungen, deren Eltern – Alkoholiker oder einfach Dummköpfe – kein Interesse an ihnen haben. Sie lernen fast nichts bei ihren sadistischen Lehrern, schwänzen die Schule und streunen durch die Stadt, klauen und finden sich schließlich in einer Einrichtung für schwer erziehbare Jugendliche hinter Stacheldraht wieder. Diejenigen, die abhauen, werden gewaltsam zurückgebracht. Am Ende des Films gelingt dem jungen Protagonisten die Flucht ans Meer.
Wir alle hier in Moskau sind jetzt wie diese „schwer erziehbaren Jugendlichen“ aus dem Film: Wir müssen Hohn und Spott des dummen und grausamen „Systems“ ertragen, die Gleichgültigkeit und die offene Feindseligkeit von Eltern und nahen Angehörigen, und wir verstehen alle nicht, wie es so weit kommen konnte, dass sich unser Leben so entwickelt hat, wo wir doch einfach nur Lust hatten, durch eine Stadt voller Verlockungen zu streifen – und vielleicht manchmal einen Ausflug ans Meer zu machen.
Aber die Wahl des Meeres ist jetzt begrenzt auf Murmansk, Kaliningrad oder Sotschi. Über Wladiwostok will ich gar nicht sprechen: Wer von uns hat schon Geld, um bis dorthin zu kommen? Schon für Sotschi oder Kaliningrad reicht es bei uns nicht. Und deshalb verbringen wir den „geschwänzten Unterricht“ nur in dem Gebiet zwischen Altufewo im Norden und Domodjedowo im Süden (Endstationen der Moskauer Metro; d. Red.). Na ja, und manchmal gehen wir auch zu Lyrikabenden mit veganem Essen.
Warum wir noch hier sind
Im Frühling sind wir nicht ins Ausland geflohen, weil wir keinen Reisepass hatten, kein Visum und kein Geld. Und wir hatten noch nicht begriffen, warum ausgerechnet wir die Stadt verlassen sollten, die wir doch hier geboren wurden. Oder hergekommen sind, vielleicht erst kürzlich, aber doch freiwillig, auf der Suche nach Poesie, Philosophie, Sinn, Freude und Freiheit, und ja, vielleicht auch nach dem ein oder anderen leicht verdienten Rubel. Warum also sollten ausgerechnet wir weggehen und nicht die, die so stolz sind auf ihre Uniformen, mit Erkennungsmarken oder ohne, und deshalb die anderen Menschen um sie herum verhöhnen?
Im Sommer schien es uns, als ob all das, weswegen im Frühling einige unserer Bekannten gegangen waren, bald zu Ende ginge. So sagten es uns diejenigen, die sich weit weg niedergelassen hatten und über wichtige Informationsquellen verfügten.
Wir glaubten den alten Bekannten, hörten aus anderen Ländern mahnende Reden über die Notwendigkeit des „passiven Widerstands“ und warteten auf den „Tag X“, an dem wir uns alle erheben oder sich alles von alleine regeln würde.
Aus klugen Youtube-Videos wissen wir, dass Revolutionen und Katastrophen in Russland schon immer unvorhersehbar waren, wobei diejenigen profitieren, die sich als Erste darauf einlassen. Wir blieben also und hofften heimlich, dass dieses Mal vielleicht Gott als Erster zur Stelle wäre oder Fortuna uns beistünde.
Als im Herbst die unbefristete Teilmobilisierung verkündet wurde, verließen schließlich viele unserer Bekannten das Land, aber viele blieben eben auch: der Freunde und Freundinnen wegen. Und es gab ja auch noch die Poesie, die Philosophie, den Sinn, die Freude und den einen oder anderen Rubel. Ja, man musste in den sozialen Medien und den Messengerdiensten beobachten, wo gerade Vorladungen verschickt wurden, man musste den Wohnort wechseln, die schlechte Gewohnheit ablegen, auswärts zu essen oder Metro zu fahren, wo die Zahl der Überwachungskameras bald die der Fahrgäste übersteigt.
Andererseits hatte die Zurückstellung von der Wehrpflicht für Studierende und Auszubildende weiterhin Bestand, die Freundin der Mutter bot Unterschlupf irgendwo auf dem Land an. Und die eigene Freundin hielt gar ein ausgeklügeltes Versteck bereit, direkt auf dem Gebiet der goldköpfigen weißen Stadt, des Hafens der fünf Meere (historische Bezeichnung für Moskau; Anm. d. Red.)
Überwintern in Russland
Und wieder sind wir geblieben. Aber diese Liebe zur Poesie und Philosophie, zur Geschichte des Heimatlandes, die zieht uns hin zu Treffen, Lesungen, Diskussionen – all das gibt es noch in unserer Stadt. Mit einer dieser Veranstaltungen beginnt meine kleine Erzählung. Man kann schließlich nicht behaupten, dass diese Leute in schwarzen Uniformen, die große Ähnlichkeit mit Terroristen aufweisen, überall auftauchen.
Nehmen wir mal an, wir hätten im November einfach Pech gehabt. Nehmen wir außerdem an, dass ich Ihnen nicht alles sage, was ich weiß, was ich tue, was wir alle tun, wir Moskowiter und Moskowiterinnen des Jahres 2022. Nehmen wir an, dass es unser „nichtmilitärisches Geheimnis“ ist. Dass einer von uns gerade ein experimentelles Perpetuum mobile des Optimismus perfektioniert.
Nehmen wir an, dass wir nicht alle Karten auf den Tisch legen können, weil man uns sonst unsere Poesie nimmt, unsere Philosophie und unser Perpetuum mobile, um das alles dann für unseren keineswegs leicht verdienten Rubel zu verkaufen. Unsere Eltern sagen, so war es schon in den 1980er und 1990er Jahren. Und dass so etwas in den vergangenen fünf bis zehn Jahren mehr als einmal passiert ist, wissen wir aus eigener Erinnerung.
Ich habe keine Bestandsaufnahme aller Festgenommenen vom 24. November gemacht (hätte ich vielleicht tun sollen) und kann deshalb nicht ganz sicher sagen, dass wir alle noch in Moskau sind. Ich könnte dieses „Wir“ nicht einmal verallgemeinernd charakterisieren, denn ich konnte in jener Nacht nicht alle kennenlernen. Nur über einige weiß ich genau Bescheid.
Aber irgendwie fließt es mir nicht aus der Feder. Ich wollte eigentlich so etwas wie ein „Tagebuch eines Aktivisten“ (aber was zum Teufel für Aktivisten sind wir seit dem 24. Februar 2022?) schreiben. Jetzt aber zeigt sich, dass dabei nur die Erklärungen eines Beobachters des russischen Naturells herausgekommen sind.
Vage Hoffnung auf Veränderung
Also lasse ich Sie und mich hier mit der Hoffnung auf Veränderung zurück. Zoj zum Beispiel (Anspielung auf das Lied „Peremen“, „Veränderung“, des Sängers Viktor Zoj aus den 1980er Jahren; d. Red.) wird immer noch in den Gängen der Metro gespielt und gesungen. Zweifelt das nicht an, ihr Fortgegangenen. Nur sind es jetzt immer häufiger Frauen, die singen.
Auch ich denke manchmal: „Ich wünschte, ich wäre als Mädchen zur Welt gekommen!“ Aber so ist es nicht, und ich kann es nicht ändern. Viel wichtiger ist es, unsere Stadt und unsere Heimat in die richtige Richtung zu verändern. Daran arbeiten wir, dafür leben wir, das könnt ihr glauben. Seid nicht traurig dort, ohne uns (wir sind es ohne euch, was denn sonst?). Schreibt, sooft es geht, in euren freien Medien, wir werden es lesen. Aber wir machen hier auch unsere eigenen.
Die Mauern werden fallen.
Der Autor schreibt unter Pseudonym. „Perechod“ heißt „Übergang“.
Aus dem Russischen Gaby Coldewey
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