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Ein Geflüchteter und sein Helfer„Mensch, nicht Tier“

Im Irak hat Haidar Obaidi alte Autos hergerichtet, in Hamburg arbeitet er in einer Fahrrad­werkstatt. Christian Saß hat das vermittelt.

Haidar Obaidi und Christian Saß bei den „Schnackschraubern“ Foto: Miguel Ferraz
Friederike Gräff
Interview von Friederike Gräff

Als wir das Gespräch mit Haidar Obaidi vereinbaren, ist die Idee, dass Christian Saß dabei ist, weil Obaidis Deutsch nicht flüssig genug ist, um seine Geschichte wirklich zu vermitteln. Christian und Haidar kennen sich über die Schnackschrauber, eine Initiative von Ehrenamtlichen, die gemeinsam mit Geflüchteten Fahrräder reparieren. Am Ende ist aus dem geplanten Zweier-Gespräch eines zu dritt geworden und nebenbei auch eines über Freundschaf t.

wochentaz: Welche Rolle spielen Fahrräder im Irak, Haidar Obaidi?

Haidar Obaidi: Nicht sehr viel, weil wenige, alte Fahrräder.

Im Interview: Haidar Obaidi

Der 51-Jährige ist vor sieben Jahren aus dem Irak geflohen. Hat dort bereits als Kind Autos instand gesetzt. In Deutschland ist sein Asylantrag abgelehnt worden. Über die Mitarbeit in einem Café für Geflüchtete hat er die Schnackschrauber und Christian Saß kennengelernt.

Wer fährt Fahrrad? Junge oder Alte, Reiche oder Arme?

Junge und Kinder. Fünf Kinder haben ein Fahrrad. Aber teuer.

Haben Sie das Fahrrad-Reparieren erst in Deutschland gelernt?

Ich arbeite seit fünf, sechs Jahre bei den Schnackschraubern. Ich habe dort alles gelernt, sechs Jahre arbeite und helfe ich, ohne Bezahlung.

Als was haben Sie im Irak gearbeitet?

Als ich zehn Jahre alt war, habe ich im Karosseriebau gearbeitet.

Im Interview: Christian Saß

Der 69-jährige Dokumentar ist seit sechs Jahren in Rente. Er arbeitet bei den Schnackschraubern in Hamburg, einem Team von Ehrenamtlichen, die gespendete Fahrräder gemeinsam mit Geflüchteten für Geflüchtete reparieren.

Mit zehn Jahren?

Ja, ich habe in meiner Heimat gelernt Karosseriebauer.

War es ungewöhnlich, dass Sie schon als 10-Jähriger gearbeitet haben?

Das ist egal. Das machen viele Kinder im Irak. Wenn es sieben oder zehn Kinder gibt, wenn mein Papa und meine Mama alt werden – was macht man?

Können Sie Ihre Familie beschreiben?

Christian Saß: Haidars Eltern sind tot. Sein Vater ist ermordet worden. Seine Mutter ist gestorben und die Schwester ist erschossen worden. Und sein Bruder ist verschwunden, der war Taxifahrer. Das ist der Hintergrund. Und als ihm die Drohungen zugestellt wurden, dass er demnächst dran ist, ist er abgehauen. Wenn er Familie meint, meint er auch die Großfamilie.

War die Familie politisch engagiert?

Haidar hat in einem gemischten Viertel gewohnt, in Bagdad, wo 80 Prozent Schiiten sind, er ist ein laizistischer, also nicht religiöser, Sunnit. Solche Leute haben jetzt im Irak einfach Probleme. Kunden haben ihm erzählt: In der Moschee hängt eine Liste und darauf steht auch dein Name.

Wann kam für Sie der Entschluss, den Irak zu verlassen?

Haidar Obaidi: Es war Krieg und immer Krieg. Und auf den Straßen lagen Tote. Ich war in der Türkei und in Kurdistan zwei Mal. Ich habe gesagt: Bitte, ich brauche Platz. Sie haben Nein gesagt. Ich war ein Jahr in der Türkei und dachte, mit Arbeit ist es besser, und in der Türkei kommt die Frage: Bist du Moslem? Ich denke Europa, das ist einfach Demokratie. Und ich lag gut damit.

Warum?

Ich bin seit sieben Jahren hier. Christian und Marie, seine Frau, haben mir geholfen. Immer. Und die Schnackschrauber in der Regerstraße auch. Jetzt habe ich Arbeit im Fahrradladen und diese Einzimmerwohnung mit Ruhe. Das ist besser als in meiner Heimat. Ich denke an Arbeit. Ich war in der Türkei und danach mit Schlauchboot nach Griechenland. Im Wasser ging es kaputt, ich habe eine halbe Stunde geschwommen, die türkische Polizei kam und sagte: Es ist verboten. Ich habe es fünfmal probiert.

Wie war das Ankommen in Europa?

Ich dachte, alles sehr schön. Es war schwierig. Drei Jahre bin ich in die Ausländerbehörde gegangen: Bitte, ich brauche Arbeit. Bitte, ich brauche Schule. Ich muss lernen, weil ich in Deutschland bin. Ich bin gegangen zur Zahnärztin und ich habe gesagt: diese Zahnschmerzen. Und dann waren zwei Zähne raus, weil ich es nicht erklären konnte.

Christian Saß: Ich hake da noch einmal ein. Also Haidar hat das ganze Kontingent an Unterricht bekommen, das man als Asylbewerber kriegt. Das Asyl ist abgelehnt worden, er ist geduldet.

Warum?

Er konnte für das Gericht nicht glaubhaft machen, dass er bedroht war. Er ist als Analphabet hierher gekommen, er ist einfach kein Mensch, der das auch rhetorisch so rüberbringt und hat von der Bedrohung, diese Art Fatwa, die über ihn verhängt ist, erst hinterher erfahren. Ich habe noch nie einen Menschen gesehen, der so viel Angst hatte, als er mir gesagt hat: Heidar nicht zurück in den Irak. Er hat gezittert wie Espenlaub.

Wie haben Sie sich kennengelernt?

Haidar Obaidi: Ich habe geholfen im Café für Flüchtlinge, eine Freundin von Marie hat gesagt, dass Christian bei den Schnackschraubern arbeitet. Ich habe ihn am Bahnhof Altona getroffen, er hat ein Buch getragen. „Haidar?“, hat er gefragt, ich habe ja gesagt. Seit fünf Jahren machen wir Unterricht und wir sind bei den Schnackschraubern, langsam verstehe ich alles und jetzt arbeite ich im Fahrradladen. Was mache ich in Deutschland, wenn ich keine Arbeit habe, wenn ich nur im Bett liege?

Es klingt so, als hätten die Schnackschrauber die Türen für vieles geöffnet.

Ich habe meine Familie verloren. Alle tot. Ich habe gefunden neue Familie. Wenn ich bei den Schnackschraubern bin, habe ich Kontakt mit Leuten, die Leute gefallen mir sehr.

Christian Saß: Es ist ihm wirklich die Decke auf den Kopf gefallen. Er hat immer sein Handy gezückt und dann war wieder ein Anschlag im Irak und er ist da nicht rausgekommen. Ich habe ihn ein bisschen bei der Arbeitssuche betreut, er hat mehrere Versuche in Autowerkstätten gemacht. Bei Haidar gibt es eine Traumatisierung – wenn er in einer bestimmten Art und Weise angeredet wird, dann ist Feierabend. So, und dann war mir klar, dass eine konventionelle Werkstatt mit diesem Kasernenhofton, wie er hier in Deutschland gepflegt wird, nicht das Richtige ist. Er braucht eine Arbeit wie bei den Schnackschraubern, das ist unsere ehrenamtliche Fahrradwerkstatt, wo alles sehr gutwillig ist. Er war auch noch bei einem Autoladen, wo die Millionärsoldtimer auseinandergenommen werden. Der Mann wollte ihn behalten, aber Haidar sagte: Ich möchte nicht. Der hatte auch so einen barschen Tonfall drauf.

Haidar Obaidi: Ich habe gesagt: Mensch, nicht Tier. Ich will wie Mensch behandelt werden, egal, ob Ausländer oder Iraki, ich helfe dir ohne bezahlen.

Christian Saß: Ja, das waren zwei Wochen, und dann haben wir das versucht beim Karosseriebauer. Die haben abgewunken: Wir haben einen Materialmix, da muss man ellenlange Handbücher lesen und die modernsten Techniken beherrschen. Und Heidar hatte eher amerikanische alte Modelle, die ohne Elektronik sind. Er hat Schrottautos angekauft und karosseriemäßig aufgearbeitet. Alles, was sonst zu machen war, haben andere gemacht. Und dann hat er sie am Ende verkauft, oder Teile davon.

Haidar Obaidi: Die Autos sind nicht gleich in meiner Heimat, mit Elektro und Computer. Ich habe gemacht Praktikum, alte Autos von Chef hier.

Christian Saß: Wir haben auch mal in Bergedorf eine große Karosseriewerkstatt besucht, die haben gleich abgewunken. Sie sagen, es gibt halt in vielen Ländern des globalen Südens viele Jobs, die man ohne Ausbildung macht. Das gibt es hier nicht. Und da werden Technologien angewandt, die hier schon seit zig Jahren nicht mehr benutzt werden. Wenn man keine Schule abgeschlossen hat, dann kann man im Irak Autos reparieren. Hier in Deutschland kann man das in einer seriösen Karosseriewerkstatt nicht. Da Zeit Geld ist, wird ausgebaut und dann werden Neuteile eingebaut, und wenn mal etwas richtig repariert wird, dann muss man genau wissen, was da zu tun ist, da benötigt man theoretische Kenntnisse.

Angesichts des Fachkräftemangels würde man denken, dass die Leute sagen: Lasst uns ausbilden und dann haben wir jemanden für die nächsten 15 Jahre, der motiviert ist.

Christian Saß: Ich habe früher mal nach dem Studium sechs Jahre in einer Möbelwerkstatt gearbeitet und war auch Ungelernter – in allen Werkstätten ist Zeit Geld – und die Leute müssen reinhauen, die müssen schnell arbeiten, dann wird das Geld verdient. Und wenn das Deutsch so ist, wie es jetzt ist, dann sagen viele einfach nein. Deswegen ist die Stelle im Radladen jetzt ein Sechser im Lotto. Ich kenne den Inhaber schon ewig. Es war unsere Hoffnung, dass es eine Arbeitsatmosphäre ist, wo Haidar zur Ruhe kommt und aufgehoben ist. Wo er etwas lernen kann und sich seinen Lebensunterhalt mal selber verdienen kann – wobei es natürlich erschreckend ist, dass es so wenig Knete ist, weil das Leben hier so teuer ist. Vorher hat Haidar immer Asylbewerberleistungen bekommen und jetzt ist es kaum mehr.

Der große Schritt jetzt ist die Arbeitserlaubnis, die gekommen ist.

Christian Saß: Wir haben einen Antrag gestellt, als das klar war mit der Arbeitsmöglichkeit im Radladen, und dann haben wir nichts gehört. Uns wurde von einer sehr freundlichen Dame bei der Arbeitsagentur gesagt, das dauert mindestens sechs Wochen. Das liegt aber nicht an uns, sondern es liegt an der Ausländerbehörde. Jetzt kommen ja viele Ukrai­ne­r:in­nen und man hörte nix und nach fast zwei Monaten war immer noch nichts zu hören. Auf E-Mails reagieren sie nicht, anrufen kann man auch nicht. Dann haben wir auf Empfehlung einer Abgeordneten eine Eingabe beim Eingabenausschuss der Bürgerschaft gemacht, da haben die dann gesagt: Oh, das tut uns leid, das ist aus dem Blick geraten.

Das ist eine schöne Formulierung.

Christian Saß: Wir machen es sofort, haben sie gesagt, aber es kam immer noch nichts. Dann war die Abgeordnete schon genervt und hat gesagt: Ihr müsst da halt mal hingehen. Dann haben wir da nochmal zwei, drei Stunden gesessen und dann war da ein junges Mädchen, das sagte: Ja, ja, das ist kein Problem. Da stand vorher: „Zugang zum Arbeitsmarkt nur mit Erlaubnis der Ausländerbehörde“. Und jetzt stand da nur noch: „Zugang zum Arbeitsmarkt“ und das war es.

Ich habe Christian am Bahnhof Altona getroffen, er hat ein Buch getragen. Haidar?, hat er gefragt, ich habe ja gesagt. Seit fünf Jahren machen wir Unterricht, langsam verstehe ich alles

Man merkt, wie viel es ausmacht, dass einem jemand vor Ort hilft.

Christian Saß: Es liegt auch an Haidar, er ist so was von hilfsbereit. Er hat die Küche im Café für Geflüchtete gemacht, er hat mit den Kindern geredet und gespielt. Es war natürlich auch Glück: eine Freundin von uns, die gegenüber der Unterkunft wohnt, hat ein Café für Geflüchtete mit anderen zusammen aufgemacht und dann kamen wir in Kontakt.

Haidar Obaidi: Einmal im Monat gibt es das Café, afghanische, irakische Gäste, ich arbeite in der Küche, draußen, habe Kontakt, ich habe immer geholfen, seit sieben Jahren. Sie sagen immer: bitte Haidar, komm. Im Fahrradladen ist es wunderbar. Und nach dem Fahrradladen bin ich bei den Schnackschraubern mit Leuten, ein bisschen nach Sprachunterricht suchen und fertig. Nur Elektroräder kann ich nicht verstehen.

Christian Saß: Kommt noch, Haidar.

Haidar Obaidi: Später, aber jetzt im Fahrradladen lerne ich viele neue Modelle kennen.

Christian Saß: Sie bringen ihm auch etwas bei. Und das finde ich ganz toll, dass sie nicht nur sagen: Ja, mach mal das, was du kannst und den Rest machen wir. Eigentlich gibt es ja eine Ausbildung und wenn man damit fertig ist, dann macht man das, was man gelernt hat – er macht sozusagen beides. Das ist das Beste, weil eine reguläre Ausbildung nicht in Frage kommt, weil er dem theoretischen Unterricht nicht folgen könnte. Zu den schönsten Erlebnissen gehörte, wie Heidar im Sommer draußen schraubte und gesungen hat. Er hat arabisch gesungen und das habe ich vorher nie gehört. Da dachte ich: Oh, jetzt geht es ihm gut.

Auch weil die Duldung verlängert wurde?

Haidar Obaidi: Mein Kopf war richtig kaputt: immer alle drei Monate, Duldung, Duldung.

Christian Saß: Jetzt haben sie es auf sechs Monate erweitert. Das Ganze dient auch dazu, dass er ein Aufenthaltsrecht aufgrund nachhaltiger Integration bekommt. Zur Ausländerbehörde zu gehen, das war immer ein Stressprogramm, jetzt kann er sogar alleine hingehen.

Haidar Obaidi: Ich habe jetzt sechs Jahre geholfen. In der Regerstraße bei den Schnackschraubern und auch im Heim, immer geholfen. Wenn ich keine Duldung mehr habe, bin ich besser tot. Dann Fenster aufmachen, fertig. Ich habe keinen Kontakt in den Irak, dann schlafe ich nicht. Es ist besser hier, ich habe Kontakt hier, Arbeit, eine kleine Wohnung und Ruhe. Sieben Jahren im Container konnte ich nicht schlafen. Sieben Leute in einem Container.

Christian Saß: Als ich Haidar nach der Ablehnung vor Gericht getroffen habe, habe ich verstanden: der erzählt nichts.

Haidar Obaidi: Wenn ich höre, ich muss zurück, kann ich nicht schlafen. Vielleicht schlafe ich heute nicht.

Christian Saß: Niemand hat das gesagt. Es war nur die Frage: was wäre, wenn.

Haidar Obaidi: Ich habe ein Fahrrad geschenkt bekommen, aus der Regerstraße. Die Polizei kommt zu mir und sagt: Das ist geklaut. Ich sage: Bitte, ich helfe da seit sechs Jahren, das ist ein Geschenk. Sie haben es nicht geglaubt und alle Leute gucken. Ich habe jetzt ein grünes Rad aus der Regerstraße und ich habe Angst, ich kann nicht damit fahren, weil vielleicht die Polizei sagt: Das Fahrrad ist geklaut.

Christian Saß: Wir haben das jetzt immer nachgeguckt in der großen Liste, Haidar, ob es geklaut ist oder nicht.

Haidar Obaidi: Ich brauche ein Leben ohne Probleme. Ich möchte nur schlafen, arbeiten. Jochim, mein Vermieter, sagt: Warum gehst du nicht raus. Es ist besser: arbeiten, schlafen.

Christian Saß: Haidar heute und damals, das ist ein Unterschied wie Tag und Nacht. Er war wirklich durch den Wind und und das ist jetzt doch trotz dieser ganzen Einschränkungen, die er sich selbst auch auferlegt, doch ein viel besseres Gefühl.

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