Graphic Novel über Schulphobie: Allein mit den Beatles
In „Nowhere Girl“ erzählt Magali Le Huche von beginnender Pubertät und der magischen Kraft von Popmusik.
Deutlich belasten die aktuellen krisenhaften Ereignisse – Coronapandemie, Klimawandel und der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine – die psychische Gesundheit junger Menschen. Gerade bei Eintritt in die Pubertät sind Heranwachsende dabei schon immer häufig von Angststörungen betroffen. Die französische Illustratorin Magali Le Huche musste eine solche Erfahrung schon als Elfjährige machen.
Sie erlebte eine schwere persönliche Krise. Ihre autobiografische Graphic Novel „Nowhere Girl“ erzählt nun von dieser Phase in den 1990er Jahren, dem plötzlichen Verlust kindlicher Unbeschwertheit und die schleichende psychische Erkrankung nach dem Wechsel in die Sekundarschule.
Ihre Erinnerungen an diesen prägenden Lebensabschnitt hat Le Huche in Bildsequenzen mit feinem Tuschestrich festgehalten. Dabei unterstreicht der auffällig orange Haarschopf der Protagonistin neben rosa Flächen kontrastreich die Perspektive der Erzählung.
Dazwischen geben ganzseitige Formate in leuchtenden Farben Einblicke in die Empfindungen,Tagträumen und Sehnsüchten dieses jungen Mädchens. Neben den gezeichneten Dialogszenen beschreibt der Text rückblickend die Ereignisse aus jener Zeit. Knappe, mit Pfeilen eingefügte Kommentierungen bilden eine zusätzliche Ebene der Erzählung.
Magali Le Huche: „Nowhere Girl“. Aus dem Französischen von Silv Bannenberg, Lettering: Céline Merrien. Reprodukt Verlag, Berlin 2022, Hardcover, 120 Seiten, 24 Euro
Alltag eines Mädchens
Unweigerlich fühlt man sich hier sogleich an „Esthers Tagebücher“ erinnert, die erfolgreiche Fortsetzungsgeschichte des französischen Comicautors Riad Sattouf. Nach der ersten Folge „Mein Leben als Zehnjährige“ veröffentlichte Sattouf ab 2017 jedes Jahr einen neuen Band mit Episoden aus Esthers Leben, der Tochter eines Freundes. Zuletzt erschien „Mein Leben als Vierzehnjährige“.
Im Cartoon-Stil gezeichnet, handeln diese humorvollen und geistreichen Geschichten vom Alltag des Mädchens, mit Freunden, Familie und Schule. Fasziniert folgen wir Sattoufs Aufzeichnungen über Haustiere, Homosexualität oder Sitzenbleiben – „nach einer wahren Geschichte von Esther A.“
Anders jedoch als Sattoufs literarische Figur „Esther“, die mit Selbstvertrauen dem Leben entgegentritt, zieht sich Le Huches elfjähriges Ich in „Nowhere Girl“ zunehmend ängstlich aus der realen Welt zurück.
Magalis Familie lebt in Paris. Vater und Mutter arbeiten als Psychotherapeuten. Der bürgerlicher Alltag ist durchorganisiert. Die Töchter besuchen nachmittags den Schauspiel- und Tanzunterricht. Die ältere Schwester ist in allen Fächern immer Klassenbeste (außer in Sport). Der elfjährigen Magali hingegen fällt das Lernen schwerer. An der neuen Schule herrscht ein geradezu militärischer Ton. Die Lehrerinnen wirken sehr autoritär und ihre Anforderungen scheinen entsprechend unerreichbar.
Bis zur Bewusstlosigkeit
Doch während ihre Freundinnen recht entspannt mit der neuen Situation umgehen können und sogar zufrieden damit scheinen, fühlt sich Magali schon bald völlig erschöpft. Eines Tages bricht sie bei einer Prüfung im Unterricht bewusstlos zusammen. In den folgenden Wochen machen morgendliche Bauchschmerzen und Übelkeit den Schulbesuch für sie unmöglich.
Obwohl Helfen ihre Profession sein sollte, sind die Eltern bei der eigenen Tochter zunächst ratlos bis schließlich eine Psychologin Magalis Problem erkennt: Schulphobie.
Sie zeigt der Familie dadurch einen Ausweg aus der belastenden Situation auf. Endlich hat die Krankheit einen Namen. Und die nächsten zwei Jahre wird Magali nicht mehr zur Schule gehen. Stattdessen wird sie vom französischen Institut für Fernunterricht, dem CNED zu Hause unterrichtet. Das eröffnet neue Perspektiven.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Nachhaltig scheinen diese frühen Jahre den Weg der heutigen Comiczeichnerin beeinflusst zu haben. Lebendig und hoffnungsvoll erzählt „Nowhere Girl“ nun von einem schwierigen Coming of Age – mit glücklichem Ausgang. Denn in dieser Phase des persönlichen Umbruchs entdeckt Magali für sich das Zeichnen und stößt dabei in der Musiksammlung ihrer Eltern auf eine CD der Beatles. Damit sollte sich ihr Leben mit einem Mal gänzlich verändern.
Paralleluniversum als Befreiung
Sie verschlingt jedes Buch und jede Reportage über die 1960 gegründete Band. Keiner ihrer Freundinnen interessiert sich 1991 noch für diese Weltstars. Doch John, Paul, George und Ringo werden für Magali zu verlässlichen Begleitern in den schwierigen Zeiten ihrer Selbstfindung.
„Komm“, ermutigen die britischen Pilzköpfe das ertrinkende Mädchen, „hier gibt es keinen Kummer.“ Wird es im realen Leben künftig für sie beklemmend, will etwa ihre Mutter über die Menstruation sprechen oder reagieren ihre Mitschülerin abweisend, dann zieht sich Magali nun einfach in ihr imaginäres „Yellow Submarine“ zurück.
In anderen Szenen zeichnet sich Le Huche als Kind neben dem CD-Player liegend, wohlig umhüllt von bunt gestrichelten Soundwolken. Sie erinnert mit solch starken Bildern an die Jugend. An jenes intensive Erleben von und mit Musik. An die eigenen ungeordneten, übermächtigen Gefühle, die in dem einen, zigmal gespielten Song ihren perfekten Ausdruck finden.
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