Paul McCartneys Songtexte in Buchform: Umsteigen in der Penny Lane

Im opulenten Band „Lyrics“ denkt Paul McCartney über seine Songs nach, über die mit den Beatles und auch die danach. Ein Weltkulturerbe für sich.

Paul McCartney inmitten von Kirschblüten

Paul McCartney in einem Kirschbaum Foto: Linda McCartney

Penny Lane is in my ears and in my eyes/ A four of fish and finger pies“. Duft und Beschaffenheit einer Tüte Fish ’n’ Chips aus einem „Chippy“, einer Frittenbude an der Penny Lane. So heißt eine Liverpooler Straße, die von einem Round­about wegführt, an dem Paul McCartney mit dem Bus umsteigen musste, wenn er zur Kirche St. Barnabas fuhr, wo er als Kind im Chor gesungen hatte.

Dort befindet sich auch ein Friseursalon, in dem sich McCartney und die anderen Beatles in den späten 1950ern die Haare schneiden ließen. „In seinem Schaufenster stellt er Fotos von Haarschnitten aus“, so beginnt McCart­neys Songtext und er endet damit, dass der Vortragende die Farbe des Himmels an einem gewöhnlichen Tag benennt. McCart­neys Liverpooler Workingclass-Herkunft spielt eine große Rolle in vielen seiner mehr als 500 Songs, genau wie sein Aufstieg aus jener kleinbürgerlichen Enge zum Weltstar.

Unterschiedliche Quellen liegen den Hits zugrunde, die McCart­ney – teils gemeinsam mit John Lennon – für die Beatles komponierte; in den Hook­lines, die er mal aus der Welt der Music Halls entlehnte, zu denen er sich mal von den Experimenten eines Karlheinz Stockhausen anregen ließ.

Das Banale ist fantastisch

Ähnlich mischt sich in McCartneys Texten Banales mit Fantastischem und legt genau wie in seinem Bassspiel eine lyrische Ader frei. Von heute aus hat der Alltag, wie McCart­ney ihn in „Penny Lane“ schildert, Anklänge an die Lyrik von Lewis Carroll, die Theaterstücke von Harold Pinter und einer Hörspielfassung von Dylan Thomas’ „Under Milk Wood“, die Anfang der 1960er von der BBC gesendet wurde. Auskünfte wie diese machen den opulent aufgemachten zweibändigen Sammelband „Lyrics. 1956 bis heute“, in dem der britische Weltstar ausführlich über seine Songs nachdenkt, so wertvoll.

Paul McCartney: „Lyrics. 1956 bis heute“. Herausgegeben und mit einer Einleitung von Paul Muldoon. Aus dem Englischen von Conny Lösch. 2 Bände, C. H. Beck Verlag, München 2021, 912 Seiten, 78 Euro

Erinnerungen an glanzvolle Zeiten werden nun, wo er in wenigen Wochen seinen 80. Geburtstag feiert, vermutlich wichtiger werden: Denn Paul McCartney, den seine Fans wie einen Fußballer stets „Macca“ nennen, blickt auf eine beispiellos lange Karriere und einen großen Fundus eigener Songs. Mit dem Komponieren begonnen hat McCartney bereits als 14-Jähriger, 1956, und bis jetzt hat er damit nie aufgehört.

Entstanden ist „Lyrics“ in Zusammenarbeit mit dem britischen Dichter Paul Muldoon. Auf mehr als 900 Seiten sind McCartneys Songtexte alphabetisch geordnet und um Fotos und Dokumente aus seiner Songwriter-Karriere ergänzt.

Alltag in der Patchworkfamilie

Nicht nur die Evergreens, auch weniger bekannte, gleichwohl tolle Songs wie „Waterfalls“, eine Single, veröffentlicht 1980, aber vermutlich früher komponiert, wie McCartney erinnert, werden hier seziert. „Der Sprecher des Songs klingt sehr nach mir, wenn ich mit meinen Kindern rede.“ McCartney war immer ein Familienmensch, der avant la lettre mit seiner Frau Linda Eastman, die aus einer früheren Ehe ein Kind mitgebracht hatte, in einer Patchworkfamilie lebte.

Nach der Trennung der Beatles wurde Paul McCartney von einer schweren Depression aus der Bahn geworfen, wie sein Song „Maybe I’m amazed“ von 1970 chiffriert zwar, aber doch thematisiert. Zu allen Liedern liefert der Songwriter Kommentare, beiläufige Bemerkungen, manches auch grundsätzlicher Natur. Zu „Why don’t we do it in the Road“ fällt ihm ein, dass er das Lied mit Beatles-Drummer Ringo Starr in einer Nacht 1968 im Studio aufgenommen hat, nachdem er kurz zuvor in Indien Affen auf einem Baum beim Kopulieren beobachtet hatte.

In jener Zeit ist McCartneys Tochter Mary geboren und zuvor suchte er eine Beratungsstelle für Familienplanung auf und zitiert pflichtbewusst aus der Broschüre „Von der Empfängnis bis zur Geburt“, die er dort erhalten hat. Damals galt er als der Bourgeois, während die Sympathien der Fans eindeutig beim Bohemien John Lennon lagen.

Tiefenbohrung im Archiv

„Lyrics“ fußt auf fünfjährigen regelmäßigen Gesprächen der beiden Pauls, aus mehr als 50 Stunden Interviewmaterial wurde Material destilliert. Dazu haben Mit­ar­bei­te­r:in­nen von McCartneys Managementfirma sein Archiv gesichtet und viele unveröffentlichte Fotos zutage gefördert, die McCartneys Frau, die Fotografin Linda Eastman, gemacht und gesammelt hat.

„Texte sind an sich schon eine Form von Musik, die im Zusammenspiel mit einer Melodie eine noch größere Magie gewinnen können“, schreibt McCartney im Vorwort. Vernunft und Lakonie wirken bei ihm nicht gespielt. Hört man sich seine Songs nun zusammen mit den Schilderungen im Buch an, dann tritt sein britisches Understatement so deutlich hervor wie bei anderen Rockstars die Drastik.

Nach Auflösung der Beatles, 1970, ist McCartney mit seiner Band Wings aktiv gewesen oder als Solist und hat, teils im Alleingang, gute bis sehr gute Alben aufgenommen. Eine Karriere, die nun schon viermal so lange dauert wie die gemeinsame Zeit mit den Beatles und doch im Schatten des Quartetts steht. Etwas ungerecht, wenn man sich den irischen Folkpopsong „Mull of Kintyre“ anhört, eine der meistverkauften britischen Singles aller Zeiten, oder das wunderbar verspielte elektronisch grundierte Soloalbum „II“ von 1980, zu dessen Songs heute wieder in Clubs getanzt wird.

Pragmatiker der Fab Four

McCartney hatte es in seiner Rolle als Pragmatiker der Fab Four in der Beliebtheitsskala schwer. Aus der Auflösung kam er zunächst beschädigt als der Spielverderber hervor, der den von Lennon engagierten US-Manager Allen Klein vergrault und später verklagt hatte. Damit rettete McCartney zwar die Publishing Rights und somit die Einnahmen der Bandmitglieder, aber bekam dafür von seinen Ex-Kollegen keinerlei Dank.

Anders als Lennon gab ­McCartney in den frühen 1970ern nur wenige Interviews. „Lennon McCartney“ steht wie eine magische Formel in zahlreichen Credits. John Lennon und Paul McCartney schrieben Musik und Worte vieler Songs oft gemeinsam, und doch galt Lennon als der intellektuelle Kopf der Band, während ­McCartney bald die Aura eines Geschäftsmanns anhaftete.

Lennon McCartney

Ihre Nachnamen haben sich so verselbstständigt, dass der US-Künstler Jim O’Rourke lange Zeit glaubte, hinter „Lennon McCartney“ verberge sich eine dritte Person! Von heute aus erklärt ­McCartney das Verhältnis zu Lennon in „Lyrics“ als selbst in schwierigen Momenten professionell und bezeichnet ihre Künstlerbeziehung als kreative Konkurrenz. Die beiden hätten sich beim Musikmachen immer ergänzt und geholfen, selbst in Fragen der Lebensgestaltung, auch wenn sie sich über Details uneinig waren, schreibt er.

Interessanterweise taucht Paul McCartney auch in Michel Houellebecqs viel diskutiertem neuen Roman „Vernichten“ auf. Dessen Protagonist trägt den gleichen Vornamen wie McCart­ney: Paul Raison ist ebenso vernunftgetrieben wie seine Frau Prudence, sie ist nach dem Beatlessong „Dear Prudence“ benannt, dessen charakteristischen Drumbeat übrigens McCart­ney eingespielt hat. Das Paar nähert sich einander nach einer langen, schwierigen Beziehung wieder an.

Raison fragt sich an einer Stelle, ob er der Güte von McCartney entspricht, und er macht sich über die Generation der Babyboomer, der auch McCartney angehört, ausführliche Gedanken. Diese stehe „mit dem einzigartigen Moment in Verbindung, in dem sich zum ersten Mal in der Weltgeschichte die populäre Kulturproduktion gegenüber den kulturellen Hervorbringungen der Elite als ästhetisch überlegen erwiesen“ habe, legt Houellebecq seinem Protagonisten in den Mund.

Wobei das ständige Aufrechnen Popkultur versus Hochkultur gar nicht nötig ist. Paul McCart­neys Songs gehören längst zum Weltkulturerbe. Wir kennen sie, schätzen sie und bringen jeweils ganz persönliche Erinnerungen mit ihnen in Verbindung. Das ist McCartneys eigentliche Leistung.

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