Dnipro im Ukraine-Krieg: Trügerische Ruhe

Die viertgrößte ukrainische Stadt Dnipro ist für viele Menschen aus dem Osten die erste Zuflucht. Doch auch hier sind sie vor Bomben nicht sicher.

Ein Mann betrachtet die Überreste eines Laternenpfahls

Wurde am Donnerstagmorgen mit russischen Raketen beschossen: Dnipro Foto: Celestino Arce Lavin/dpa

DNIPRO taz | Ein fürchterlicher Knall erschüttert Dnipro – Hauptstadt des Gebietes Dnipropetrowsk, viertgrößte Stadt der Ukraine und rund 400 Kilometer von Kiew entfernt – an diesem Donnerstagmorgen. Am Ende eines Korridors des in Zentrumsnähe gelegenen Hotels Dnipropetrowsk wird eine Tür aufgerissen. Drei Frauen, alle Mitte 50, stürmen heraus. „Kommen Sie mit. Da unten ist es sicher“, ruft eine von ihnen allen zu, die dem Trio entgegenkommen.

Die Frau, die einen roten Rollkragenpullover trägt, scheint sich gut auszukennen. Zielsicher steuert sie die mittlerweile auf zehn Personen angewachsene Gruppe durch verschlungene Gänge in den Keller. Nur zwei Männer und eine Frau bleiben auf dem Balkon zurück. Sie wollen noch in Ruhe zu Ende rauchen und blicken direkt auf den Fluss Dnipro, der vor dem Hotel entlangfließt. „Euch ist anscheinend alles wurscht“, ruft die Frau den Dreien wütend zu.

Unten im Keller stellt sich heraus, dass die Frauen gerade eine Qualitätskontrolle machen. „Dann arbeiten wir eben hier unten weiter“, sagt die Frau mit dem Rollkragenpullover. Unter dem Arm trägt sie einen kleinen Ordner und fixiert die Umstehenden durch eine goldgeränderte Brille mit strengem Blick. Der Mann ihr gegenüber im blauen Arbeitsanzug hört sich bereitwillig die Kritik über tropfende Wasserhähne an. „Die wollen, dass wir hier alle verhungern, erfrieren, eben einfach nicht da sind“, klagt eine andere Frau mit roten Haaren. „Wann hört dieser Krieg endlich auf!“

Auch sie gehört zur Qualitätskontrolle. Doch ihr ist jetzt nicht nach einem Gespräch über tropfende Wasserhähne zumute. „Unser Gennadij Korban (ein einflussreicher Lokalpolitiker; d. Red.) hat vor einigen Monaten ein gutes Abwehrsystem bestellt. Aber was hilft das beste Abwehrsystem, wenn es noch gar nicht geliefert ist“, entgegnet ein anderer Mann im blauen Arbeitsanzug. „Unsere Politiker haben die letzten 30 Jahre alle geschlafen. Wenn wir damals eine gute Luftabwehr gekauft hätten, müssten wir jetzt nicht hier im Keller sitzen und auf das Ende des Luftalarmes warten.“

An Gennadij Korban scheiden sich die Geister. Für die einen ist er ein Held, der den Widerstand der Stadt gegen die Besatzer mit aufgebaut hat, für die anderen ein korrupter Oligarch, der die Fäden in der immer noch boomenden Stadt zieht. „Hier wird kein Haus gebaut, ohne dass sich Korban eine beträchtliche Summe in die Tasche steckt. Gut, dass Präsident Wolodimir Selenski ihm die Staatsangehörigkeit entzogen hat“, sagt eine Frau.

Bis Dnipro reicht die russische Artillerie nicht

Im Südwesten von Dnipro habe es eingeschlagen, sagt ein Mann. Er habe gerade mit seinem Kumpel telefoniert. „Ich bekomme immer einen hohen Blutdruck, sobald der Luftalarm beginnt. Seit dem Krieg damals ist das so. Dann ging es besser, ich hatte stabil meine 120/80. Seit Februar geht er nach oben, wenn wieder Alarm schlägt.“ „Welcher Krieg damals?“, fragt jemand. „Ich war in Afghanistan“, antwortet er.

„Bei uns hier geht’s ja noch“, mischt sich ein anderer Mann im Blaumann ein. „Aber ich habe Bekannte in Saporischschja. Da ist Angst ein Dauerzustand. Die wissen nicht, ob sie in der Früh aufstehen sollen oder nicht, zur Arbeit fahren können, oder besser gleich in den Keller gehen sollen – wenn sie da nicht schon nachts runter sind.“

Tatsächlich ist Dnipro für viele Menschen, die aus dem Donbass fliehen, die erste Anlaufstelle. Bis Dnipro reicht die russische Artillerie nicht. Das bedeutet, die Menschen hier sind nicht täglich russischen Luftangriffen ausgesetzt, wie beispielsweise die Bevölkerung im Norden von Charkiw oder in Saporischschja.

Wer etwas Geld hat, zieht von Charkiw, Saporischschja und anderen Orten im Osten nach Dnipro. Wer etwas mehr Geld hat, zieht weiter – nach Kiew oder gar Uschhorod. Und wer keine Angst hat, ins kalte Wasser zu springen, geht nach Polen oder Deutschland.

Mykola Lukaschuk, Chef des Bezirksrats Dnipropetrowsk, sagt: „Heute leben in unserer Region mehr als 369.000 Binnenvertriebene, davon mehr als 120.000 Kinder. Viele sind ohne Papiere zu uns gekommen. Im Gebiet Dnipropetrwosk leben 3,2 Millionen Menschen. Bereits in den ersten Tagen des Krieges hatten wir über 500.000 Binnenflüchtlinge hier.“

Eine gute und eine schlechte Nachricht

Wenige Stunden später wird das Ausmaß des morgendlichen Beschusses bekannt. Zwei Fabriken, darunter auch „Pivmasch“, zitiert das Portal NV Premierminister Denys Schmyhal, seien getroffen worden. Pivmasch, besser bekannt unter der sowjetischen Bezeichnung „Jusch­masch“, produzierte zu Zeiten des Kalten Krieges die gefürchteten SS20-Raketen.

23 Be­woh­ner*in­nen von Dni­pro seien bei diesem Raketenangriff am Donnerstag verletzt worden, berichtet NV unter anderem unter Berufung auf den Bürgermeister von Dnipro, Boris Filatow. Auch Wohnhäuser seien Ziel des Angriffes gewesen.

In der selben Nacht, berichtet strana.news unter Berufung auf Kirill Timoschenko, den stellvertretenden Chef des Präsidialamtes, seien bei einem Beschuss von Wohnhäusern in der Stadt Wolnjansk im Gebiet Saporischschja vier Menschen getötet worden.

Dnipro hat eine Million EinwohnerInnen. Zu Sowjetzeiten war sie wegen der Raketenfabrik Juschmasch ein Zentrum der sowjetischen Atomrüstung. Deswegen war die Stadt bis 1987 für Aus­län­de­r*in­nen gesperrt. Am 19. Mai 2016 wurde die Stadt mit Entscheid des Parlamentes von Dnepropetrowsk in Dnipro umbenannt.

Der Angriff auf Pivmasch zeige eins: Moskau habe verstanden, dass es die Stadt nicht einnehmen könne. Das ist eine gute Nachricht. Doch jetzt geht die Angst um. Das ist die schlechte.

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