Befreite ukrainische Stadt Kupjansk: Schreckliche Funde
Mit der Rückeroberung der Region Charkiw durch die Ukraine mehren sich Indizien für Folterungen und illegale Verhaftungen durch das russische Militär.
Warnung: Dieser Bericht enthält drastische Schilderungen von physischer Gewalt und Folter.
Mit seinem Onkel Wladimir war er in einer Zelle des zeitweiligen Untersuchungsgefängnisses der „Volksmiliz“ (so wurden die Polizeikräfte während der russischen Besatzung genannt) in Kupjansk inhaftiert. Dort seien sie mehrere Wochen gefoltert worden, um Geständnisse oder Aussagen aus ihnen herauszuprügeln, die andere belasten. Jetzt, so ist Schanna Wolschina überzeugt, bräuchten ihre Verwandten eine medizinische Behandlung, es müsse eine Tomografie des Kopfes gemacht werden.
Die Frau sagt, dass die russischen „Volksmilizionäre“ während der ukrainischen Gegenoffensive schnell davongelaufen seien und Hunderte von Gefangenen in den Gefängnissen zurückgelassen hätten. „Die Leute saßen in geschlossenen Zellen, warteten auf Essen, auf Wasser.“ Irgendjemandem gelang schließlich die Flucht durch ein Fenster, andere schafften es auf das Dach. Dann suchten sie nach den Zellenschlüsseln und begannen damit, auch alle anderen Zellen zu öffnen.
Unter den Befreiten waren auch ihre Angehörigen, die sie zunächst kaum wiedererkannte – die Männer hatten stark abgenommen. Schanna Wolschina ist davon überzeugt, dass Menschen in Kupjansk gefoltert wurden, weil sie laute Schreie und Hilferufe hörte, als sie versuchte, Lebensmittel zum Gefängnis zu bringen. „Die Häftlinge wurden geschlagen. Sogar hier in der Schlange, als wir darauf warteten, ihnen ein Paket zu geben, waren Schreie zu hören“, sagt sie. Jetzt ist Roman Ewtejew mit seinem Onkel Wladimir in Charkiw, sie haben nicht vor, nach Kupjansk zurückzukehren.
50 Gefangene in einer Zelle
Die Russen hatten sich offensichtlich für einen längeren Aufenthalt in Kupjansk eingerichtet. So wurden hier entsprechende Behörden für den besetzten Teil des Charkiwer Gebietes eingerichtet. Die Miliz wurde mit 1.000 russischen Uniformen ausgestattet, erzählt Dmitri Litwinenko, stellvertretender Leiter der Polizei im Gebiet Charkiw. Jetzt liegen diese Uniformen in den Etagen der ehemaligen „Polizeistation“ herum, die Russen haben nicht einmal versucht, sie mitzunehmen oder zu vernichten.
Im Unterschied zu ihren Dokumenten. Als die Russen flohen, begannen sie, Papiere zu verbrennen. Der erste Stock der Abteilung, in dem sich die Diensteinheit befand, ging in Flammen auf. Dass dabei die Flammen nicht auf die Haftanstalt mit Hunderten von Häftlingen übergriffen, kommt einem Wunder gleich.
Litwinenko sagt, dass die Russen hier zeitweise bis zu 300 Gefangene festgehalten hätten. Die Betroffenen hätten sich davor geweigert, mit den Besatzern zusammenzuarbeiten oder aus anderen Gründen deren Missfallen erregt. In einigen Zellen, die für fünf bis sechs Personen ausgelegt waren, seien 50 Häftlinge zusammengepfercht gewesen. „Die Leute wurden 15 bis 30 Tage lang eingesperrt“, sagt der ukrainische Polizist.
Die Sprecherin der Polizei der Region Charkiw, Olena Barannik, schließt nicht aus, dass die Russen auch ukrainische Kriegsgefangene illegal festgehalten und gefoltert hätten, da in einigen Räumlichkeiten auch ukrainische Uniformen gefunden worden seien. Derzeit laufen Ermittlungen, die Polizei ist dabei, Listen mit Namen von Opfern und Zeug*innen zu erstellen.
Die Stadt Kupjansk ist massiv zerstört und fast menschenleer. Der 37-jährige Bewohner Maksim war gerade bei einer Ausgabestelle für humanitäre Hilfe und ist jetzt auf dem Weg nach Hause. Er sei die ganze Zeit der Besatzung über in der Stadt gewesen, deshalb kenne er mehrere Personen, die in der provisorischen Haftanstalt der „Volkspolizei“ gefoltert worden seien. Einer seiner Kameraden habe sieben Tage hintereinander in einem vergitterten Bereich im Hinterhof des Gebäudes ausharren müssen. „Sie wurden dort verspottet und standen einfach nur da, im Regen unter freiem Himmel. Platz zum Sitzen gab es keinen. Das Essen wurde ihnen hingeworfen, in eine Pfütze, wie bei Hunden“, erzählt Maksim.
Er betont, dass in diesen sechs Monaten niemand habe herausfinden können, warum die Menschen ins Gefängnis gesperrt worden waren. Manchmal habe es wohl ausgereicht, wenn den Besatzern das Gesicht einer Person nicht gepasst habe. Und dann erzählt er noch ein interessantes Detail: So gingen in Kupjansk illegale Festnahmen und Folterungen von Zivilist*innen offensichtlich auch auf das Konto von ehemaligen ukrainischen Milizionären, die 2014 im Zuge einer Reform des ukrainischen Innenministeriums entlassen worden seien. „Das ist unser Müll. Die, die 2014 die Überprüfung nicht überstanden haben“, erregt sich Maksim.
In den Räumlichkeiten der Kupjansker Abteilung der „Volksmiliz“ wurden übrigens mehrere Gegenstände gefunden, die für Folterungen verwendet werden. Darunter war auch eine Gasmaske. Die entsprechende Methode wird „Elefant“ oder „Staubsauger“ genannt. Dem Gefangenen wird die Maske aufgesetzt, dann die Luftzufuhr unterbrochen und manchmal noch etwas Zigarettenqualm hineingeblasen. Das dauert in der Regel bis zur Bewusstlosigkeit.
Stromschläge mit sowjetischem Feldtelefon
Neben Schlägen, Schlafentzug und stundenlangem Stehen ist auch der „Anruf im Kreml“ beziehungsweise der „Anruf bei Putin“ sehr beliebt: Der Person werden Drähte angelegt – an die Ohren, Finger oder Geschlechtsteile, dann wird der Strom angeschaltet. Gerne auch auf feuchter Oberfläche, um die Kraft der Stromschläge zu erhöhen. Den Strom liefert ein Dynamo. Dafür wird ein sowjetisches Feldtelefon vom Typ TA-57 verwendet.
Die Charkiwer Strafverfolgungsbehörden sagen, dass die Russen durch Folter Aussagen aus Leuten herausgeholt hätten, die diese Informationen theoretisch gar nicht haben konnten. Bis heute wurden in der Region Charkiw 22 Foltereinrichtungen entdeckt und nach der Rückeroberung bereits mehr als 600 Leichen exhumiert. Der Polizei liegen Informationen über weitere Massengräber in der Region vor.
Aus dem Russischen: Barbara Oertel
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Anschlag von Magdeburg
Aus günstigem Anlass
Biden hebt 37 Todesurteile auf
In Haftstrafen umgewandelt
Analyse der US-Wahl
Illiberalismus zeigt sein autoritäres Gesicht