: Das Neue sozial denken
DAS SCHLAGLOCH von MATHIAS GREFFRATH
Eine Linkspartei wird gegründet, auf dem Politbarometer markiert sie auf Anhieb 18 Prozent – unerhörtes Geschehen. Und man möchte gleich wieder zum politischen Misanthropen werden: Die gebrochenen, aber altersversorgten Hinter- und Vorderbänkler der SPD schließen die Reihen gegen „Wurmfortsätze“ und „Verräter“. Die parlamentarischen Linken, die vor vier Jahren, als Attac boomte, heimlich, in einem Büro Unter den Linden, den Aufstand gegen Schröder schworen, sind ganz leise.
Heribert Prantl, der kürzlich noch die neoliberale Politik von SPD/CDU als substanziellen Verfassungsbruch geißelte, nörgelt in der Süddeutschen Zeitung an den Bild-Kolumnen Lafontaines und seinem Rücktritt herum, statt die angebotene Alternative auf ihre Substanz abzuklopfen. Und in der taz klagt Mark Terkessidis: Oh Mann, diese Vollbeschäftigungsbetonköpfe wissen nicht mal, was ein moderner single und eine multitude ist!
Gewiss, die „Demokratische Linke“ ist eine Sturzgeburt im Strudel der von Schröder herbeigezockten Neuwahlen – aber sie erst macht aus dieser Wahl eine Wahl und öffnet den politischen Horizont. Symptomatisch dafür sind die panischen Wendeworte von Schröder und Merkel, wir brauchten jetzt sofort höhere Löhne und eine Millionärssteuer. Sicher, sicher, man müsste blind sein, sähe man die Schwächen der Schnellfusion nicht: von der nostalgischen PDS-Basis bis zur Fixierung auf nur zwei fernsehtaugliche Charakterdarsteller – aber indem ich das schreibe, bin ich doch schon wieder stark Leitartikel-infiltriert: Wer in der PDS will denn „den“ Sozialismus zurück, und was wäre die SPD ohne Schröders Proll-Charisma?
Die Schwäche der Neugründung liegt auch nicht im Sozialstaats-„Konservatismus“. Was soll denn das heißen? Die entscheidende politische Trennlinie liegt genau zwischen „das Soziale neu denken“, wie es neuerdings von der katholischen Bischofskonferenz bis zum Bertelsmann-Fellow Warnfried Dettling heißt – und „das Neue sozial denken“, was durchaus in der Tradition des rheinischen Kapitalismus ist, wie Heiner Geißler es jüngst so schön sagte.
Auch er ist leider ein weiterer Beleg für die ewige Wahrheit, dass Parteidissidenten zwar radikal denken, aber den Bruch der Firmenloyalität nicht riskieren. Obwohl die christlichen Arbeitnehmer wortlos geworden sind und der SPD-Arbeitnehmerflügel zum belachten Gespenst im Kabinettsaal – Geißler wird nicht zu Attac gehen und Ottmar Schreiner nicht zur WASG. Beide werden bis zum Ende glauben, sie könnten so mehr bewirken.
In der (noch sehr pluralen) Programmatik derer, die gesprungen sind, und ihres intellektuellen Umfelds ist einiges darüber zu finden, wie man den Kapitalismus so komplementieren könnte, dass er wieder, wie von Adam Smith (vgl. „Theorie der ethischen Gefühle“) vorgesehen, als Motor eines sittlich akzeptablen Staatsgefüges funktioniert. Ob es nun die neokeynesianischen Vorschläge Peter Bofingers sind oder die zehn Punkte, mit denen Lafontaine in Nordrhein-Westfalen auftrat.
Eine Kostprobe: „Erstens, wir kritisieren nicht Herrn Ackermann wegen zu hoher Bezüge, sondern wir heben den Spitzensteuersatz wieder an auf über 50 Prozent wie in Belgien, Dänemark, Schweden und Frankreich. Zweitens, wir kritisieren nicht die mangelnde Moral unserer Unternehmensleiter, sondern wir verbieten endlich Aktienoptionen für Manager. (…)
Sechstens, wir klagen nicht über den brutalen Finanzkapitalismus, sondern wir führen ein Gesetz ein, das Dispokredite, also die Kredite, wo die Ärmsten in Deutschland mit 10, 11 bis 15 Prozent gemolken werden, gesetzlich reguliert. (…)
Achtens, wir klagen nicht jeden Tag über die ach so leeren Sozialkassen, sondern wir stellen die Aufsplitterung regulärer Arbeitsverhältnisse in Minijobs, in Midijobs und in die schändlichen 1-Euro-Jobs endlich ab. So plündert man die Sozialkassen, statt den Sozialstaat fit zu machen für die Zukunft.“
Die Schwäche liegt darin, dass die „Demokratische Linke“ ihren Wählern kurzfristig selbst dieses nicht versprechen kann angesichts der Koalition der Weitermacher. Anti-Hartz-Rhetorik und pragmatischer Populismus werden sie ins Parlament bringen. Aber gegen den „Gezeitenwechsel“ (Dettling), den die Liberalen ankündigen, nach der Flut des Sozialstaats nun die Ebbe des Marktstaates, wird sie auf Dauer nur dann Terrain gewinnen, wenn sie „groß“ denkt, über die Protestpartei hinauswächst – und das auch an der „Basis“. Es wäre gefährlich, die Illusion zu nähren, unsere Gesellschaft könne wieder gerechter, inklusiver und ökologischer werden – und das gar auf weiterhin wachsendem Konsumniveau.
Die wirklich großen Reformen, die anstehen – etwa der europäische Wohlstandsausgleich –, werden aber nur akzeptiert werden, wenn die „Opfer“ gerecht verteilt und mit dem Versprechen der Zugehörigkeit zu einem lebenswerten Gemeinwesen verknüpft werden. Für die Ökologie heißt das: ein europäisches Programm zur zukunftssichernden Umstellung der Industriegesellschaft auf erneuerbare Energien, mit Deutschland als Vorreiter. Für die Arbeitsgesellschaft: eine Kombination von polytechnischer Bildungsexpansion mit allgemeiner Arbeitszeitverkürzung und einem Wohlstandskonzept, das Reichtum nicht mehr als exponentiell steigenden Warenkonsum begreift. Stattdessen wird die Eigen- und Mußezeit für alle vermehrt und damit der Staat von der Verwaltung des Nichtverwaltbaren entlastet. „Dreizeitgesellschaft“ hieß das einmal bei den Grünen.
Das und anderes – und es ist hier nur angedeutet – setzt eine mehrheitsfähige Veränderung im Einheitsdenken voraus. Nur: Die ist ohne wort- und bildermächtige Intellektuelle schwer zu machen – und die stecken fest in der Reserve ihrer hart errungenen Mittelstandsexistenz. Eine Kulturrevolution? Wer so was fordert, macht sich lächerlich. Postmaterielle Werte? Sind das nicht die alten Hüte, die unter dem Erkenntnisschock der Siebziger schon einmal sehr plausibel getragen wurden – von den Grünen bis hin zur Weizsäcker-Family, und auch in den Achtzigern noch mal?
Diese Furcht vor Lächerlichkeit ist eine Aufsteigerkrankheit. Der Gedanke, dass man im Unrecht war, weil man verloren hat, – ist sozialdemokratisches Urerbe im schlechten Sinne. So wie Angst vor Unoriginalität die Urkrankheit der Intellektuellen ist. Diese mentalen Schwächen sollten gering wiegen gegen die Aussichten des „weiter so“.
Im Hinblick auf den September ist es eben keine unbillige Erwartung, dass das Linksbündnis und Attac die ideologischen Empfindlichkeiten und theoretischen Finessen einstellen und acht Wochen Wahlkampf gemeinsam machen – es mangelt ja nicht an Wählerwillen, eher schon an Aktivisten. Und es wäre wünschenswert, wenn nicht nur Grass und Walser die Stimme für die SPD erhöben, sondern auch, sagen wir: Grönemeyer, Habermas, Castorf und die „Helden“ für die Demokratische Linke. Die große Koalition der Weitermacher bleibt ja bestehen und die multitude sowieso – man kann also ganz beruhigt mal etwas riskieren.
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