Ausstellungsempfehlung für Berlin: Spurensuche für alle
Šejla Kamerićs Arbeiten bei Tanja Wagner führen zu den endlosen politischen und ökonomischen Konflikten an den südöstlichen Grenzen Europas.
Vorweg: Das Poster „Bosnian Girl“ liegt in dieser Ausstellung bei Tanja Wagner nicht zum Mitnehmen aus, dafür muss man zum n.b.k. in die Chausseestraße gehen, wo es auch schnell vergriffen sein kann.
Denn das Poster, auf dem Šejla Kamerić ein von niederländischen Soldaten dahingeschmiertes Graffiti aus der UN-Schutzzone Srebrenica während des Bosnienkriegs mit ihrem Konterfei überblendete, ist ikonisch.
Den sexistischen Chauvinismus der Soldaten und das Wissen um den furchtbaren Genozid von Srebrenica kehrte sie darauf kurzerhand zu einem Moment des Widerstands, der feministischen Selbstermächtigung um.
Noch immer, bald zwanzig Jahre nach „Bosnian Girl“ (2003) spiegeln sich an den südöstlichen Grenzen Europas globale politische und ökonomische Konflikte, und so führt uns die in Sarajewo, Istrien und Berlin lebende Künstlerin mit ihrer Ausstellung RETROSPECTING auch in eine Zeitschleife.
Šejla Kamerić: „RETROSPECTING“, Galerie Tanja Wagner, Di.–Sa. 11-18 Uhr, bis 29. Oktober, Pohlstraße 64
Denn alles scheint sich zu wiederholen. Auf Postern, Fotografien und Videoaufnahmen der letzten zwanzig Jahre spürt Šejla Kamerić räumliche Szenen auf, sie dokumentiert offizielle Schilder an einer türkischen Grenze, illegale Wandgraffitis, Hinterlassenschaften von Geflüchteten auf ihrem manchmal unglücklichem Weg durch die Balkangebiete in die EU.
Migrierende Schmetterlinge
Eine Fotografie zeigt goldene Plastikschmetterlinge, vermutlich Haarschmuck von einem flüchtenden Mädchen aus Syrien oder Afghanistan. Schmetterlinge können migrieren, wird das Bild kommentiert.
Menschliche Geschichten, Widerstand, aber auch die Ignoranz derjenigen, die sich auf der bequemen Seite einer politischen Grenze wähnen, holt Kamerić mit ihren präzisen Momentaufnahmen hervor. Künstlerisch bleibt sie bei den Methoden der Vervielfältigung und der Straße. Diese Bilder sollten schon möglichst viele sehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!