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Cancel Culture und WokenessAuf Wiedervorlage

Gastkommentar von René Rusch

Die Argumentationslinien gegen vermeintliche Wokeness sind alt. Doch ein Blick zurück zeigt: Keines der Schreckensszenarien ist jemals eingetreten.

Angebliche Sprechverbote: Winnetou-Darsteller und Hubert Aiwanger (Freie Wähler) in Bayern Foto: Daniel Karmann / dpa

W innetou wird verboten. „Layla“ landet auf dem Index. Die Ärzte canceln sich selbst und singen nicht länger von der „fetten Elke“. In immer schnellerem Takt wird von immer neuen Ungeheuerlichkeiten berichtet. Verantwortlich dafür soll eine rasant um sich greifende Ideologie sein, genannt Wokeness. Will man den Kritikern glauben, steht nicht weniger auf dem Spiel als die offene Gesellschaft. Folgerichtig entfacht jeder einzelne dieser Kampfbegriffe hitzige Debatten.

Die Bereitschaft, Wokeness, aber auch so genannte Identitätspolitik und Cancel Culture so zu diskutieren, als handele es sich dabei um neue Phänomene, ist erstaunlich. Schließlich sind sämtliche Argumente, die aktuell zu hören sind, 1:1 aus dem über dreißig Jahre alten Anti-Political-Correctness-Diskurs kopiert.

Der Ausgangspunkt jeglicher Debatten zum Thema ist das Aufbegehren marginalisierter Gruppen. Diese wollen auf Diskriminierungen aufmerksam machen und setzen sich für gesellschaftliche Teilhabe ein. Man könnte dies unter Überschriften wie Selbstermächtigung oder Herrschaftskritik besprechen – tatsächlich sind es aber die vermeintlichen Gefahren und Zumutungen, welche von Political Correctness & Co. ausgehen, die Schlagzeilen produzieren.

Schreckgespenst #1 ist das drohende Ende der Meinungsfreiheit. Die angeblichen Sprechverbote werden als Vorboten eines autoritären Zeitalters gedeutet. Argumentiert wird dabei seit 1991(!) nach dem gleichen Schema: Weil heute jemand auf einer Uni an einem Vortrag gehindert wird, drohen uns morgen Zustände wie in Orwells 1984. Ein Ausnahmefall wird zur Norm erklärt und als Beleg für die inhärente Gefährlichkeit von Wokeness präsentiert.

Wie es sich für Schauergeschichten gehört, haben jene, die hinter den Bedrohungen stehen, etwas von einem Phantom: Schließlich ist so gut wie niemand zu finden, der sich selbst als „politisch korrekt“ oder „woke“ deklarieren würde. Die Bezeichnungen existieren in erster Linie als negativ besetzte Fremdzuschreibungen. Jene, die mit diesen arbeiten, haben zwar Unmengen an Text produziert, konnten ihre Gegenspieler aber nie dingfest machen.

René Rusch

geboren in Wien, ist Regisseur beim Österreichischen Rundfunk (ORF). Aktuell arbeitet er an einem Buch­projekt mit dem Titel „Antirassismus-Führer“ – ein antirassistisches Lexikon, um besser gegen reaktionäre Redeweisen argumentieren zu können.

In aller Regel sind es nicht näher definierte „Sprachpolizisten“, „Tugendterroristen“, neuerdings „Lifestyle-Linke“ und „Social Justice Warriors“, von denen die Gefahr ausgehe. Charakterisiert werden sie als naiv und realitätsfern. Statt Vernunft zu gebrauchen, übten sie sich im Moralisieren. Sie sind wehleidig, überempfindlich, hypersensibel. Ihre folgenschwerste Eigenschaft demnach: der Hang zum Autoritarismus. Angeblich wollen sie Andersdenkende „zum Schweigen bringen“ oder „mundtot“ machen. Der „Social Justice Warrior“ von heute wird dabei exakt gleich beschrieben wie der politisch korrekte „Gutmensch“ aus dem vorigen Jahrhundert.

Warum ist es von Bedeutung, dass die aktuellen Angriffe allesamt Kopien sind? Um dies zu beantworten, gilt es, das Dilemma zu veranschaulichen, vor dem die PC-Kritik und deren Klone stehen: Die hysterischen Warnungen sind keine adäquate Beschreibung der Wirklichkeit. Wenn die kritisierten „Ideologien“ so mächtig wären – warum nehmen sie dann keinen Einfluss auf die realpolitischen Machtverhältnisse?

Während der über drei Jahrzehnte, in denen vom linken „Meinungsterror“ fantasiert worden ist, hatten CDU/CSU fast ein Dauerabo auf die Kanzlerschaft inne. In Österreich sitzt die ÖVP gar ohne Unterbrechung auf der Regierungsbank; die FPÖ saß seit 1999 drei Mal in einer Regierung. Die rechtspopulistische SVP ist seit über 20 Jahren stärkste Partei in der Schweiz. Auch bei den Massenmedien kann mitnichten von einer politisch korrekten Vorherrschaft gesprochen werden: Die meistgelesene Zeitung ist seit jeher die Bild-Zeitung. FAZ, Welt, Focus sind einer woken Ausrichtung ebenso unverdächtig.

Auf dem Buchmarkt und in den neuen Medien leben eine Menge Menschen sehr gut davon, dass sie publizieren, was angeblich nicht gesagt werden könne – die PC-Kritik ist längst Mainstream.

Um die Diskrepanz zwischen Narrativ und Wirklichkeit zu kaschieren, behelfen sich die Anti-Wokeness-Warriors mit einem simplen Trick: Sie verlagern ihre Schreckensbilder in die Zukunft. So gut wie nie behaupten sie, dass die freie Rede im Hier und Jetzt substanziell eingeschränkt wäre. Stattdessen „greift etwas um sich“ oder „ist auf dem Vormarsch“. Die neue alte PC-Kritik behandelt im Grunde keine faktischen Zustände. Ihr Standardmodus ist das Verkünden von Prophezeiungen.

Nur verliert die eigene Position an Glaubwürdigkeit, wenn fortlaufend verkündete Voraussagen nie eintreten. Die drei Jahrzehnte Anti-PC-Diskurs sind hierfür ein leuchtendes Beispiel: Texte, die vor 10, 20 oder 30 Jahren erschienen sind, lesen sich heute wie Satire. So viel Drama, so viel Hysterie – doch nicht eines der dystopischen Bedrohungsszenarien ist je Realität geworden.

Blaupause über den alten Texten

Was gegenwärtig über Wokeness, Identitätspolitik und Cancel Culture geschrieben wird, lässt sich wie eine Blaupause über die alten Texte legen, in denen das Feindbild Political Correctness hieß. Kein Kritikpunkt, kein Argument, kein Slogan ist neu. Immer geht es darum, aufmüpfige Randgruppen auf ihren Platz zu verweisen. Wer Rassismus anprangert, will anderen „den Mund verbieten“; wer für gendergerechte Sprache eintritt, errichtet „Gesinnungskorridore“; wer eine menschliche Flüchtlingspolitik befürwortet, betreibt „Tugendterror“.

Statt den Anliegen marginalisierter Gruppen sollen imaginäre „Sprechverbote“ die Debatte dominieren. Das Schreckgespenst der Political Correctness hat diese Aufgabe lange höchst erfolgreich erfüllt – doch der Schauder beim Publikum soll nicht nachlassen. Die Einführung ein paar neuer Kampfbegriffe scheint dafür auszureichen. Denn gegenwärtig setzen wir voller Elan eine 30 Jahre alte Scheindebatte fort.

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8 Kommentare

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  • "Immer geht es darum, aufmüpfige Randgruppen auf ihren Platz zu verweisen." meint der Autor. Und dann bringt er als eines von 3 Beispielen die "gendergerechte Sprache". Diese wird zurzeit häufig im Fernsehen, von Ministerien und von den Leitungen großer Unternehmen verwendet. Sind das "aufmüpfige Randgruppen"? Wohl kaum.

    Und gegen Rassismus einzutreten, ist seit Jahren offizielle Staatsraison, auch wenn es in der Umsetzung häufig noch ganz anders aussieht. Die Annahme, dass Antirassismus nur eine Angelegenheit von "Randgruppen" wäre, war vor ein paar Jahrzehnten zutreffend; heute ist sie schlicht falsch.

    In den genannten Punkten betreibt der Autor denselben Unfug, den er der "PC-Kritik und ihren Klonen" vorwirft: Er stellt Positionen, die längst gesellschaftlicher Mainstream bzw. offizielle Regierungspolitik sind, so dar, als handle es sich immer noch um Anliegen eines kleinen Häufleins Aufrechter, zu denen er sich selbst zählt. Das Einnehmen einer scheinbar widerständigen und mutigen Pose ist bei Rechten und Linken, bzw. (was nicht immer dasselbe ist) bei Konservativen und Progressiven gleichermaßen beliebt.

    • @Budzylein:

      "Positionen, die längst gesellschaftlicher Mainstream bzw. offizielle Regierungspolitik sind"



      Wo denn?



      "Frauenministerin rät Bundesbehörden von Genderzeichen ab"



      www.zeit.de/politi...en-bundesbehoerden



      "Eine vom Sender in Auftrag gegebene repräsentative Umfrage der Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen ergab, dass 71 Prozent der Menschen Gendersternchen und Sprechpausen in den Medien NICHT gut finden."



      www.bild.de/politi...77127224.bild.html



      Mehrheit gegen das Gendern in Stellenanzeigen



      www.rnd.de/panoram...EU2GPO7BSHFEA.html



      Von den DAX-Unternehmen gendern gerade mal 5 von 40 konsequent.



      t3n.de/news/gendern-im-dax-40-1412269/



      Der Frauenanteil in den Vorständen liegt immer noch bei gerade mal rund 19%. Dafür ist immerhin der Anteil der Migrant*innen auf diesen Posten mit über 1/3 erstaunlich hoch, wobei die meisten aus den USA stammen, gefolgt von Österreich und UK. Also eher nicht repräsentativ zur Bevölkerung. Weiter könnte man sprechen über steigende Zahlen bei Abschiebungen, Angriffe auf Menschen die Kippa tragen, Angriffe auf Menschen die am CSD teilnehmen, über Racial Profiling oder darüber, dass inzwischen in ganzen Regionen eine proto-faschistische Partei regelmäßig stärkste Kraft ist (zB bei der Europawahl ´19 datawrapper.dwcdn.net/Cwn4z/3/ ).

      • @Ingo Bernable:

        Ihre Beispiele widerlegen meine Ausführungen nicht.

        Die Bundesfamilienministerin rät in dem von ihnen verlinkten Artikel zwar nicht zur Verwendung von Genderzeichen, aber statt dessen zur Verwendung geschlechtsneutraler Wörter, was ja wohl ebenfalls eine "geschlechtergerechte Sprache" ist. Es gibt auch Landesministerien, die das Gendersternchen verwenden, z. B. das Sozialministerium in Schleswig-Holstein.

        Dass die Bevölkerungsmehrheit gegen das sog. Gendern ist, bedeutet nicht, dass nur "aufmüpfige Randgruppen" gendern. Und der von Ihnen genannte Frauenanteil in Vorständen hat mit sog. geschlechtergerechter Sprache nichts zu tun; es gibt im Übrigen auch völlig geschlechtsneutrale Sprachen, die aber in den Ländern, in denen sie gesprochen werden, mitnichten zur Gleichstellung von Frauen und Männern geführt haben. Das Gendern in Unternehmen dient vor allem dazu, das eigene Image kostengünstig aufzupolieren, ändert aber an den Verhältnissen nichts und bringt keiner Frau auch nur einen Cent mehr Arbeitsentgelt.

        Die von Ihnen genannten Angriffe ändern nichts daran, dass die offizielle Haltung des Staates gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit gerichtet ist; es handelt sich um Straftaten, die von der Regierung keineswegs gebilligt, sondern in deren Verlautbarungen scharf verurteilt werden. Dass staatliche Stellen sich nicht selten rassistisch verhalten, habe ich nicht bestritten, im Gegenteil, aber offizielle Regierungspolitik ist das eben nicht.

        Und die Wahlergebnisse in der von Ihnen verlinkten Übersicht zeigen, dass die AfD in keiner der Regionen, in denen sie stärkste Partei geworden ist, auch nur ein Drittel der Stimmen erhalten hat, geschweige denn eine Mehrheit. Die AfD sitzt in keiner Regierung, stellt keinen Minister und findet keinen Koalitionspartner. Wer nicht AfD wählt, gehört in keinem einzigen Wahlkreis zu einer "Randgruppe", sondern zur klaren Mehrheit.

  • 4G
    49732 (Profil gelöscht)

    Spruch auf einer Demo: Bei einer Diktatur steht an jeder Ecke ein Polizist, bei Wokeness hat jeder einen Polizisten im Kopf!

    • @49732 (Profil gelöscht):

      Jeder soziale Mensch hat eine ganze Polizeiwache im Kopf. Das ist normal. Die Dienststellen der einzelnen Personen entscheiden nur nicht in allen Fällen gleich.



      Sonst noch was?

    • @49732 (Profil gelöscht):

      Aha, also doch 'Zensur' und 'Verbote'? Oder vielleicht doch einfach nur ein Minimum an Selbstkontrolle mit dem Ziel eines sozial adäquaten und bestenfalls resepektvollen Miteinanders? Ist es denn wirklich ein Problem oder eine echte Einschränkung einen Bogen um diskriminierendes und abwertendes Verhalten zu machen?

  • "Keines der Schreckensszenarien ist jemals eingetreten."



    Und die Überschrift zeigt auch schon die Argumentationslinie des nachfolgenden Textes.



    Schade, ich hatte auf mehr gehofft.



    Aber prima, dann brauchen wir ja z. B. auch nichts mehr gegen Klimakatastrophe oder Atomkrieg zu unternehmen. Die sind ja auch noch nie eingetreten.

  • Schon Jesus war woke und hat bis heute eine krasse Fangemeinde, wo Ed Sheeran oder Madonna nur neidisch werden können. Und wie heißt denn eigentlich diese eine Moralapostel, für die wir Artikel 1 des Grundgesetzes verdanken?