Folgen der hohen Gaspreise: Gas contra Glas
Auf der italienischen Insel Murano wurde jahrhundertelang Glas hergestellt. Heute sind kaum noch Öfen in Betrieb. Die Gaspreise bedrohen das Handwerk.
B rücken, niedrige Häuser und schmale Gassen entlang der Kanäle, die wenig Platz lassen für die Tische und Stühle der sie säumenden Cafés und Restaurants, und das blaugrün schimmernde Wasser der Lagune – Murano wirkt auf den ersten Blick im September nicht anders als Venedig – nur kleiner, weniger imposant und angeberisch. Die Auslagen der Geschäfte sind gefüllt mit Andenkenkitsch, Schmuck und Schöner-oder-schrecklicher-wohnen-Artikeln wie Tellern, Gläser oder Vasen in allen Farben, Mustern, Schattierungen – handgemacht aus Murano. Die Tourist:innen tragen Taschen mit den Namen der berühmten Glasmanufakturen Venini oder Cenedese durch die Straßen wie anderswo die Namen teurer Parfümiers oder Couturiers.
Aber kein Plakat oder Schild an einem der Geschäfte oder Cafés, das verkündet: Wir sind bedroht, es geht uns nicht gut, es geht uns eigentlich ziemlich dreckig. Kein öffentlicher Aufschrei: Vielleicht gibt es uns bald nicht mehr.
Cristiano Ferro von der Firma Effetre Murano
Die Glasproduktion ist die Existenzgrundlage der Insel und Grundlage ihrer kulturellen Identität seit Jahrhunderten. Die gibt man nicht so schnell auf und nicht so schnell preis. Das ist die Krux an der Sache. „Was man in den Geschäften sieht, kommt letztlich meist von uns“, sagt Cristiano Ferro. „Wir verkaufen, was das Magazin hergibt, aber irgendwann ist Schluss.“ Seine Firma Effetre Murano stellt als einziger Betrieb der Insel Glas als Vor- oder Halbprodukt her, die semilavorati, die von lokalen Glasmanufakturen weiterverarbeitet werden.
Schon jetzt lassen sich im Lager von Effetre nicht mehr alle der rund 200 Farbnuancen finden. Ferro führt durch die Gänge der Halle, wo in Holzregalen Glas in langen Stangen nach Farben und Durchmesser sortiert steht: bei den Orangetönen klaffen Lücken, und das besondere Filigrano-Glas, transparent und mit feinen Farblinien durchzogen, ist aus.
„Wir nehmen derzeit keine Aufträge an“, sagt Ferro. Alle 13 Brennöfen von Effetre sind kalt, die Produktion ist stillgelegt. 32 Menschen arbeiten hier, eigentlich, zwölf Angestellte sind bereits in Kurzarbeit. Ferro, kurze Jeans, staubiges T-Shirt, führt in sein kleines Büro. Er steht, während er redet, die Zeit drängt; am Abend wird die Glasweek in Venedig unter Sturzregen eröffnet werden, eine jährlich stattfindende Großveranstaltung rund um Glaskunst mit Workshops, Panels, Ausstellungen. Dort muss Ferro als Vizepräsident der Sektion Glas im italienischen Industrieverband Confindustria Venezia Gesicht zeigen.
1996 zählte Murano noch 266 Glasmanufakturen, übrig geblieben sind an die 60, die sich über die Inselgruppe verteilen. Murano gilt als das Mekka des Glases, in den Augen seiner Käufer:innen ebenso wie in den Augen seiner Produzent:innen. Gebrannt aus Quarzsand, Silizium, Soda und anderen mineralischen Stoffen – jeder Glasmacher hat seine eigene wohlgehütete Mischung und Rezeptur – ist Muranoglas nicht nur von höchster Qualität, sondern auch gleichbedeutend mit Glaskunst: über das Blasen, Formen und Bearbeiten von Glas zu Gläsern, Schalen, Skulpturen oder Kronleuchtern, die bis heute Paläste von Potentaten und Milliardär:innen schmücken. Oder aber als Lichtinstallationen ihren Weg in die Welt der Kunst und Technik gefunden haben.
Die Preise gehen durch die Decke
Bis auf zwei große Firmen und einige ganz kleine haben alle Betriebe auf Murano ihre Öfen nach der jährlichen Sommerpause nicht wieder in Betrieb genommen, bestätigt Ferro. Es folgen Zahlen, Rechenbeispiele, fantastische Summen. 165.000 Kubikmeter Gas verbraucht durchschnittlich sein Betrieb im Monat. Lag der Gaspreis im Oktober 2020 noch bei 21 Cent pro Kubikmeter, belief er sich ein Jahr später bereits auf 60 Cent und flottierte im August 2022 bei wahnsinnigen 2,60 Euro.
Explosiv die Kosten, die Zahlen, die Rechnungen: Statt 35.000 Euro wie einst zahlte Effetre, so sagt Cristiano Ferro, im August 350.000 Euro für die gleiche Menge Gas. Statt 300.000 seien es nun 3 Millionen im Jahr, so geht es weiter und wird so schnell kein Ende nehmen. Ähnliche Berechnungen stellten alle Betriebe an, mit denen die taz gesprochen hat. Insolvenz habe noch keiner in Murano angemeldet, weiß Ferro; zumachen, abwarten sei die Maxime im Moment.
Schon vor der Eskalation durch den russischen Angriff auf die Ukraine hatte Muranoglas mit Widrigkeiten und dem Niedergang zu kämpfen: das zerstörerische Hochwasser von 2019, der Einbruch des Tourismus durch Corona und ein sich verändernder Weltmarkt, der Imitate aus Asien in die Geschäfte spülte. Neuerdings gibt es ein Label, das die Herstellung des Glases auf Murano garantiert. Nicht jeder Betrieb macht da mit, auch das eine Besonderheit der Insel, wo sich die alteingesessenen Familien oft mit Misstrauen begegnen.
Bis heute ist Murano familiär, patriarchalisch, handwerklich geprägt. Das hat seinen Ursprung in der Inselgeschichte. Nachdem sich im Mittelalter die Republik Venedig zum Zentrum der europäischen Glasherstellung entwickelt hatte, verbannte der Doge im Jahr 1295 die Glashütten nach Murano. Es trug zur Isolation des Berufsstandes des Glasmachers bei, dem es bei Strafe verboten war, die Insel zu verlassen und seine Rezepturen in die Welt zu tragen. Erst das böhmische Glas brach im 18. Jahrhundert das Monopol der Insel bei der Glasherstellung. Murano verkümmerte in Zeiten der Industrialisierung, bis es sich im 20. Jahrhundert mit Glaskunst neu erfand.
„Die EU hat versagt“
„Ein Preisdeckel für Gas wäre ein starkes Symbol“, sagt Luciano Gambaro vom Consorzio Promovetro Murano, dem das Herkunftslabel Vetro Artistico Murano zu verdanken ist. „Die EU hat wieder mal versagt und keine Einigung zustande gebracht.“ Gambaro führt einen kleinen Betrieb, ein Teilhaber, sieben Angestellte und einen von drei Öfen in Betrieb. Einen Monat halte er noch durch, sagt Gambaro. Der Festpreis für die Glasindustrie, der früher jährlich neu ausgehandelt wurde, sei aufgehoben, ab Oktober sollen die Firmen ihre Zahlungen monatlich im Voraus begleichen – oder eine feste Abnahmemenge garantieren. Wer kann das schon im Moment?
„Wir haben bereits im vergangenen Oktober Alarm geschlagen“, erklärt Gambaro. Auch Sand und andere benötigte Rohstoffe zur Glasherstellung seien vielfach teurer geworden. Die Region Venetien bewilligte im Dezember 2021 einen Hilfsfonds von 3 Millionen; die Gelder sind aufgebraucht. Im Frühjahr stellte das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung einmalig 5 Millionen Euro für Murano bereit. „Die bürokratischen Hürden sind enorm“, sagt Gambaro. Sein Kollege Cristiano Ferro als Vertreter der Confindustria Vetro kann sie genau beziffern: nur 10 Prozent der Hilfsgelder seien bisher bei den antragstellenden Firmen eingegangen.
Ferro weiß von Firmen, die in der falschen Gewissheit, sie bekämen einen Teil der Rechnungsbeträge rückerstattet, die Summen vorfinanziert hätten. Nun sitzen sie vor kalten Öfen – und warten, wie alle gerade warten. Die Situation erschwerend kommt hinzu, dass ab dem 1. Juli die EU-Regelung für die „De-minimis-Beihilfen“ wieder in Kraft getreten ist, wonach Betriebe aus Gründen drohender Wettbewerbsverzerrung nicht mehr als 200.000 Euro in einem Zeitraum von drei Jahren als Hilfsgelder bekommen dürfen. „Die sind im Nu erreicht“, sagt Ferro.
Die in Rom noch amtierende Regierung Draghi hat zusätzlich zu dem im Januar beschlossenen Maßnahmenpaket von 33 Milliarden Euro vor ein paar Wochen ein Hilfspaket von 14 Milliarden Euro zur Unterstützung von in Not geratenen Familien und Unternehmen verabschiedet. Betriebe können so ein Viertel ihrer Energiekosten erlassen bekommen, erklärt Ferro. „Draghi macht, was er kann“, lobt Ferro den scheidenden Ministerpräsidenten. Doch am 25. September wird in Italien gewählt und „alle Parteien versprechen alles“, auch den Gaspreisdeckel, für den sich schon die amtierende Regierung auf EU-Ebene vergeblich eingesetzt hat.
Gibt es Alternativen zu Gas? Luciano Gambaro hat früher mit Wasserstoff als Energieträger experimentiert, das Ergebnis sei unzureichend gewesen. „Es wird noch 15 Jahre dauern, bis das gut machbar ist.“ Gambaro stammt aus einer Glasbläserdynastie. Er verweist auf ein Foto im Flur, das seinen Großvater als Vertreter Italiens bei der Expo 1934 in Chicago zeigt. Die elektrischen Öfen, die manche Betriebe einsetzen, funktionierten nicht gut, sagt Gambaro. Bei Muranoglas kommt es schließlich auf die Konsistenz, die Elastizität des Glases und die Intensität der Farben an. „Das ist eine Frage der Qualität“, sagt Gambaro. „Alle Materialien sind auf Methan ausgerichtet.“
Uralte Traditionen und uralte Öfen
Roberto Beltrami, Inhaber von Waveglass Murano, geht mit der Problematik anders um – offensiver. Er hält drei von fünf Öfen am Laufen und hat in den letzten Jahren zwei alte durch neue, effizientere ersetzt. Eine Investition, die rund 70 Prozent Energieersparnis bringe. Bezogen hat Beltrami den neuen Ofen aus den USA, wo er einige Jahre lebte. „Die Denkweise hier ist nicht sehr aufgeschlossen“, sagt der 32-Jährige in schwarzem T-Shirt, schwarzer kurzer Hose in seinem Büro. „Sie haben uralte Traditionen und uralte Öfen.“ Es klingt ebenso großspurig wie verächtlich und gründet doch auf Erfahrung. „Alle leben hier wie vor 30 Jahren, aber die Welt draußen hat sich verändert.“
Sie beschert neue Techniken, neue Technologien. Doch ein neuer Ofen reicht nicht. „Man muss wissen, wie er funktioniert, und seine Arbeitsweise anpassen“, sagt Beltrami, dem sein Physikstudium viel geholfen hat. „Die Arbeitsweise ist anders, das Resultat das gleiche.“ Wie zum Beweis bringt ein Assistent eine Karaffe Wasser und zwei hausgemachte Muranogläser für die Gäste.
2010 ist Beltrami nach Murano gekommen. Gelernt hat er bei Pino Signoretto, einem bekannten Glasmeister. Etwa 20 Jahre Erfahrung braucht ein Glasbläser, um Meister genannt zu werden; einen offiziellen Titel oder Ausbildungsweg gibt es nicht. 2017 hat sich Beltrami, gebürtig aus Brescia, selbständig gemacht. Er ist Außenseiter geblieben. „Ich habe es aufgegeben, Arbeiter von der Insel zu suchen.“ Die meisten jungen Leute gehen weg; wer geblieben ist, hat schon einen Job, im Familienbetrieb, oder macht seinen eigenen Laden auf.
Roberto Beltrami von Waveglass Murano. Bei ihm laufen noch drei Öfen
Nach der Stunde kollektiver Mittagspause demonstriert Beltrami mit seiner Glasbläserpfeife, die in Wahrheit ein langes Blasrohr ist, seine Kunst. Aus den Lautsprechern erklingt Musik, hinter einer Absperrung stehen Zuschauer:innen und schauen dem vierköpfigen Team bei ihren Arbeitsschritten zu. Schnell, präzise, akrobatisch. „Es ist mehr Sport als Handwerk“, sagt Beltrami, er schwitzt. Die Handreichungen sind abgestimmt, müssen sitzen. Glasblasen ist Teamarbeit. Gesprochen wird ein Mix aus Englisch und Italienisch.
Mehrere Blasrohre stehen vorbereitet an einen der großen Öfen gelehnt. Die Spitze der Stange mit der Rohmasse wird im glühenden Ofen erhitzt. Die Temperatur beträgt zwischen 1.100 und 1.400 Grad. Das Rohr wird gedreht und gerollt, in Farbpartikeln gewälzt, geschwenkt und wieder erhitzt, zwischendurch auf einer Bronzeplatte abgekühlt; dann kommt ein kurzer Moment, in dem Beltrami in das Rohr bläst und die Masse am Ende der Stange Farbe und Form annimmt. Zangen, Utensilien zum Schleifen und Bearbeiten liegen bereit, seit Jahrhunderten unverändertes Werkzeug.
Später wird die Blase in eine Form gepresst, als Letztes erhält sie die Signatur des Hauses eingeprägt. Das erhitzte Glas verträgt keine knalligen Temperaturschwankungen, es ist ein ständiger Wechsel von Erwärmen und Abkühlen. Danach kommt das fertige Glas in einen kleinen Ofen zum Auskühlen.
Die Gläser zählen zur Standardproduktion, unaufwendig und nicht so teuer. Aber schon zweimal hat Beltrami in diesem Jahr seine Preise erhöhen müssen, zuletzt im August um 35 Prozent. „Mein Ziel ist es, eine neue Generation von Glasbläser:innen heranzubilden“, sagt Beltrami. Er fängt im Oktober damit an, dann kommen vier Praktikantinnen.
Von Männern geprägt – aber das ändert sich gerade
Denn Murano ist nicht nur patriarchalisch geprägt, auch das Handwerk selbst befand sich stets in Männerhand. „Nur Perlen waren eine weibliche Domäne“, erklärt Susanna Sent, die mit ihrer Schwester Marina ein eigenes Unternehmen führt. Beide Großväter besaßen Glasfabriken. „Dort arbeiteten 60 Männer in Tag- und Nachtschichten und stellten Gebrauchsgegenstände her: Gläser, Schüsseln.“ Diese reine Männerwelt zu betreten sei für ein Kind oder eine junge Frau undenkbar gewesen, sagt Chiara Sent.
Die Zeit der Massenproduktion ist vorbei, inzwischen firmiert Muranoglas im Luxussegment. Susanna und Marina Sent trennten sich 1994 geschäftlich von der Familie, durchaus erfolgreich; ihre Entwürfe finden sich mittlerweile im Shop des Museum of Modern Art in New York. „Wir haben mit der Vergangenheit gebrochen, aber in Respekt vor der Tradition“, sagt Susanna Sent.
Der riesige weiße Showroom ihrer Boutique auf Murano verströmt sanfte Eleganz, das Gegenteil der vollgestopften Souvenirläden auf den Straßen. Ein großer Brennofen passt hier nicht ins Design. Die Sent-Schwestern machen ausschließlich Verarbeitung und Veredelung von Muranoglas, das sie vorgefertigt von Effetre Murano beziehen. Im ersten Stock ihrer Niederlassung hängen gläserne Gewänder, die bei näherer Betrachtung aus vielen transparenten Glaskugeln gefertigt sind. Es sind eher Stücke für eine Theaterbühne oder Ausstellungshalle, so fließend, zerbrechlich und hart, wie nur Glas sein kann.
„Wir haben keinen hohen Gasverbrauch“, erklärt Susanna Sent. „Wir arbeiten mit kleinen Elektroöfen und für den Schmuck mit dem Gasbrenner, der verbraucht weniger.“ Trotzdem sei die Lage schwierig, weil die Materialien rar würden. Manchmal entwerfen die Sents auch große Objekte und Skulpturen, die sie zusammen mit Glasmeistern in deren Werkstätten ausführen. Wenn die Krise vorbei ist. Sind Sie optimistisch, Susanna? – „Ich bin müde.“
Ein Generationenwechsel steht an, und es ist sicher kein Zufall, dass Jüngere, Außenstehende den Neuanfang gewagt haben. Sie können besser verkaufen, sie verfügen über eine Werbestrategie, so wie der Zwei-Frauen-Betrieb El Cocal, der sich in „Vetraie Ribelli“ – Rebellische Glasmacherinnen – umbenannt hat. Mit der Coronapandemie haben sie vor zwei Jahren ihr Atelier auf Murano aufgemacht, mit der Gaskrise haben sie – symbolisch am 8. März – wieder zugemacht, nachdem sie eine Dreimonatsrechnung von 53.000 Euro erhalten haben. Das Schild zu ihrem Atelier am Fondamento Venier haben sie bereits abgenommen, drinnen denken sie derweil über neue Strategien nach, während die Hündin Afa um ihre Beine strolcht.
Nur nicht aufgeben
Aufgeben wollen Mariana Olioboni, 32, und Chiara Lee Taiarol, 35, nicht. Bei der Glasweek sind sie präsent, laden Publikum in ihr Studio. Taiarol will zeigen, dass sich mit dem Gasbrenner sogar Gläser herstellen lassen, bislang wurde damit traditionell Schmuck modelliert. „So zu arbeiten ist schöner, aber auch anspruchsvoller“, sagt sie, während sie sich über die Gasflamme beugt. Muranoglas brauche Leichtigkeit, sei sehr empfindlich. „Es vergibt einem nichts, wenn man sich vertut. Man muss immer präsent sein, immer präzise. Die Gasflamme ist ein 1.100 Grad heißer Direktstrahl. Ein Trinkglas damit auf den Punkt zu bringen ist schwierig.“
Während sie redet, fabriziert sie einen zarten Kelch an einem langen Stil. „Man verfällt dem Glasmachen oder nicht“, sagt sie. „Es ist wunderschön anzusehen. Man muss sich fokussieren. Mir hat es das Leben gerettet. Und Mariana auch.“
Die beiden Frauen haben sich an der Oberschule kennengelernt. Taiarol, Halbamerikanerin, musste nach ihrer Ausbildung in Seattle, dem Zentrum US-amerikanischer Glaskunst, lange suchen, um das Metier dort zu lernen, wo sie es sich wünschte. „Ich fühle mich Murano sehr verbunden. Mir gefallen die alten Traditionen. Trotzdem müssen wir weitergehen, etwas Neues anfangen“, sagt sie. „Der einzige Weg ist: die Kunst mit dem Glas zu verbinden.“
Kunst, das hieß, sich von Marco Signoretto, Glasmeister aus Murano, bekannt für seine Lichtinstallationen, anlernen zu lassen; Kunst, das hieß, im Studio von Adriano Berengo, einem in Murano ansässigen Impresario und Galeristen, mitzuarbeiten. Als Taiarol während der Pandemie arbeitslos wurde, entschied sie sich, etwas Eigenes aufzumachen; ihre Partnerin Mariana Oloboni stieg mit ein
Wie kann es jetzt weitergehen? „Wir überlegen“, sagt Taiarol, „das Atelier ganz aufzugeben.“ Workshops anbieten, Öfen anmieten. „Die Idee ist, Murano nach Italien zu tragen.“ Was dann von Murano bleibt?
Die Jüngeren wie Taiarol, Oliboni oder Beltrami nehmen für sich in Anspruch, innovativ zu sein. Ob sie das auf dem künstlerischen Gebiet auch sind, wird sich zeigen. Sie stehen am Anfang ihrer Laufbahn. Doch sie bewegen etwas, das über die Gaskrise hinausweist. „Es ändert sich“, sagt Chiara. „Es gibt eine neue Generation. Wir sind zwar wenige, aber es gibt uns.“
Murano droht der Übertourismus
Bisher lebte man auf Murano vom Glas und nahm die Touristenscharen billigend in Kauf. Sie kauften Souvenirs, buchten Werkstattbesuche, konsumierten in den Cafés. Der Hauptanteil des Umsatzes ging in den Export, vor allem in die USA. Doch dort, wo in den letzten Jahren Glasmanufakturen in Murano zugemacht haben, sind bereits zwei noble Hotels eingezogen. Sollten noch mehr Betriebe schließen, droht der Insel, was auch Venedigs Substanz zerstört, nicht die bauliche, sondern die menschliche: ein Übertourismus, der die Einheimischen vertreibt.
Die Glaskunst von Murano spielt auf verschiedenen Plätzen, in verschiedenen Ligen. Während auf der Insel die kleineren Firmen um ihre Existenz bangen, kann man in der Basilika San Giorgio Maggiore in Venedig eine Ausstellung des exilierten chinesischen Künstlers Ai Weiwei besichtigen. Betitelt nach Dantes „Göttlicher Komödie“, wird die Klosteranlage mit Bildern aus Lego und Skulpturen aus Holz und Glas bespielt. Ein neun Meter langer Kandelaber aus schwarzem Muranoglas hängt von der Kirchendecke, in 2.000 Einzelteile zerbrochen. Er zeugt von der Morbidität des Lebens – und davon, dass Muranoglas weiterhin eine Zukunft hat.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos
Abschiebung von Pflegekräften
Grenzenlose Dummheit
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
Trumps Personalentscheidungen
Kabinett ohne Erwachsene