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Teilhabe von Menschen mit BehinderungMindestlohn für alle

Die Bundesregierung feiert sich für die baldige Einführung des 12-Euro-Mindestlohns. Der gilt aber nicht für alle.

Bekommen keinen Mindestlohn: die Beschäftigten in Behindertenwerkstätten Foto: Rupert Oberhäuser/imago

V or mir steht eine Tasse Kakao. Fancy Kakao aka Fair-Trade-Bio-Trinkschokolade, die ich geschenkt bekommen habe. Selbst gekauft hätte ich sie mir nicht. Wie viele andere Menschen muss auch ich nachrechnen, was bei mir in den Einkaufswagen kommt. Nach den Entlastungs-, besser Almosenpaketen wird die Koalition sich nächste Woche mit der Einführung des 12-Euro-Mindestlohns brüsten. Doch der wird angesichts der Inflation für Millionen Menschen kaum etwas ändern im Portemonnaie. Viele erhalten gar keinen Mindestlohn, weil sie durchs Raster fallen. Schlupflöcher – zum Beispiel Saisonarbeitenden und Pflegekräften den Mindestlohn nicht voll auszahlen zu müssen – wurden nicht gestopft.

Wer auch keinen Mindestlohn erhält und wo es seitens der Politik so gar keine Bewegung gibt, sind die Beschäftigten in Behindertenwerkstätten. Bei einem Stundenlohn von etwa 80 Cent bis 2 Euro werden sie von Unternehmen und Vereinen wie IKEA, Daimler, Volkswagen und dem Goethe-Institut ausgebeutet. Behindertenwerkstätten konkurrieren mit Billiglohnanbietern aus dem Ausland. Über 320.000 Menschen mit Behinderung erwirtschaften jährlich einen Umsatz von 8 Milliarden Euro. Ein lukratives Business, außer für die Beschäftigten in den Werkstätten.

Ich staune nicht schlecht, als sich bei meinen Recherchen herausstellt, dass auch das Unternehmen, das meinen Feel-Good-Kakao verkauft, in Behindertenwerkstätten für sich arbeiten lässt. Teilhabe nennen sie das auf ihrer Website. Social Washing nenne ich das, Schönfärberei. Auf der Verpackung meines Kakaos wirbt GEPA, der „größte europäische Importeur fair gehandelter Lebensmittel“ aus Ländern des globalen Südens, mit einer Schwarzen Frau und der Aufschrift „Vom Kleinbauern aus Afrika“. White Charity.

Abschaffung des „Systems Werkstatt“

Auf die Entlohnungspraktik in Werkstätten angesprochen, teilt GEPA auf Nachfrage des enorm-Magazins mit, man gehe nicht davon aus, dass Menschen ausgebeutet werden. Man kann nur mutmaßen, ob GEPA sich unwissend gibt, weil sie davon profitieren. Stillschweigen, leere Versprechen oder Ausreden, weshalb ein Mindestlohn hier nicht umsetzbar sei seitens der Politik. Kein Wunder, dass Behindertenrechtsaktivist_innen eine Reform und gar Abschaffung des „Systems Werkstatt“ fordern, wie auch die UN.

Mit einer ehemaligen Beschäftigten habe ich mich vor Kurzem unterhalten. Sie hat jahrelang in einer Werkstatt gearbeitet in der Hoffnung, auf den ersten Arbeitsmarkt zu kommen, wie die Werkstätten und das Gesetz es versprechen. Doch der Arbeitsmarktwechsel passiert bei weniger als einem Prozent. Auch bei ihr hat es als ältere Frau im Rollstuhl bislang nicht geklappt. Deutschland hat kein Interesse an der Umsetzung echter Teilhabe. Das haben die vergangenen Jahre, Monate und Wochen gezeigt. Ein solidarischer heißer Herbst kann diese schwierigen Zeiten versüßen.

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8 Kommentare

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  • Zur Zeit sind die Werkstätten doch eher eine Fürsorgeeinrichtung, was mich am meisten stört ist der ständig Verstoß gegen die informelle Selbstbestimmung in diesen Einrichtungen.

  • Ich habe selber Zivildienst in einer solchen Einrichtung gemacht. Es gibt dort Bereiche wo mehr oder weniger "normal" gearbeitet wird. Sei es in der Metallwerkstatt oder im Garten- und Landschaftsbau. Hier ist es ein Unding, das keine anständigen Löhne gezahlt werden und die "billigen" Mitarbeiter als Wettbewerbsvorteil genutzt werden, so mal viele der dortigen Mitarbeiter bei Eltern oder alleine wohnen (ohne viel Betreuung) . Viele Aufträge bekommen die Werkstätten ja auch nur, weil Unternehmen sich so vor der Verantwortung drücken selber behinderte Menschen zu beschäftigen.

    Anders sieht es bei Beschäftigen aus die z. B. Kleidung zerschneiden (Putzlappen herstellen) oder den ganzen Tag Puzzle "testen". Es gibt in den Werkstätten eben viele Menschen die einfach beschäftigt werden, auch wen sie nicht einen Cent erwirtschaften.

    Wichtig ist ein faires Taschengeld von dem sich die Menschen was leisten können (Naschen, Unterhaltung aber auch käufliche Liebe (echt ein Thema)). Was bringt ein Mindestlohn der dann eh wieder gegen die Betreuungskosten angerechnet wird.

  • Diese Kolumne fällt leider inhaltlich stark hinter die Berichterstattung zum Thema im letzten Herbst zurück. In einer Zeitung kann ich schon etwas mehr Information erwarten. Oder anders gefragt: Gibts was Neues zum Thema?

  • Azubi*innen bekommen auch keinen Mindestlohn und das bei angeblichem Fachkräftemangel.

  • Wenn der Mindestlohn in Behindertenwerkstätten eingeführt wird, bleiben die Aufträge aus. Wäre das wünschenswert?

    • @Frank Stippel:

      Danke für diese Logik. Warum arbeiten nicht eigentlich alle umsonst, damit der Boss endlich seinen Privatjet bekommt?

      • @TV:

        Äh, ok. Macht Sinn, irgendwo. Keine Ahnung wo, aber wenn Sie glücklich sind, ist alles ok.

  • Auch die Unternehmensgruppe HERA - LED Lichtkonzepte aus Ostwestfahlen lässt



    in mehreren Behindertenwerkstätten produzieren, so meine Info.



    Es wäre doch mal interessant welche Unternehmen alles so für "nicht mal ein Butterbrot" prodozieren lässt.



    Vielleicht eine Aufgabe der taz - das mal zu durchleuchten und publizieren?????