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Theater-Festival „Spieltriebe“Die Brachen, die die Welt bedeuten

Fürs Festival „Spieltriebe“ führt das Theater Osnabrück durch die Stadt: An „Lost Places“ wie dem Ex-Kaufhaus Ypso gibt es Zeitgenössisches.

Ein perfekter Ort für Spieltriebe: die Ruine des Parkhauses am Ypso-Gebäude am Osnabrücker Neumarkt Foto: Hermann Pentermann

Ypso. Wer in Osnabrück diesen Namen hört, denkt an Uringestank und Verfall. Seit fast 15 Jahren steht der riesige Glasfassaden-Klotz leer und mahnt am Neumarkt, einem der zentralen Plätze der Stadt, wie ruinös der Kapitalismus sein kann. Kaufhäuser wie Hertie und Wöhrl waren hier früher mal drin, am Ende der Restpostenmarkt für Elektronik, dessen so seltsam klingender Name noch heute draußen dran steht, riesig groß. Auch die dazugehörige Parkgarage, mehrere Etagen hoch, aus brutalem Beton, steht leer, umwuchert und verschlossen.

Aber zum Glück sucht das Theater Osnabrück alle zwei Jahre für Spieltriebe, sein mehrtägiges Festival für Zeitgenössisches Theater, nach ungewöhnlichen Auftrittsorten. Einer davon ist diesmal das Ypso-Gebäude, als „Geisterhaus aus einer anderen Zeit“; ein anderer das Parkhaus, dessen „Abwesenheit von Funktion und Bedeutung“ es „zum perfekten Ort für eine Neubesetzung, Umdeutung, Umgestaltung“ macht, wie das Team um Intendant Ulrich Mokrusch es ausdrückt. Er hat das Festival von seinen Vorgängern geerbt und belebt es nun neu.

Drei der knapp ein Dutzend Produktionen der neunten Ausgabe der Spieltriebe finden in diesem ruinenhaften Kaufhauskosmos statt. Wo Einkäufe in Kofferräume geladen wurden, ist „Empört Euch!“ zu sehen, ein Projekt eines generationenübergreifenden Stadtensembles des Theaters, selbst geschrieben, nach der Kernidee des gleichnamigen Essays des Résistancekämpfers, KZ-Überlebenden und Politaktivisten Stéphane Hessel.

Bei Ypso adaptiert Regisseur Caner Arkadeniz in „Ellbogen“ einen ­Roman von taz-Redakteurin Fatma Aydemir über die Selbstfindung einer jungen Deutschtürkin. Zudem wird Ypso zum Schauplatz für Ali N. Askins halb dokumentarisches Musiktheaterstück „Insan. Inşaat. Istanbul“, auf Deutsch also „Mensch. Baustelle. Istanbul“, eine Collage von Geschichten und Stadtgeräuschen, die das Publikum an den Bosporus versetzen soll.

Im Kaufhaus zum Bosporus

Die kahle Leere des Ex-Kaufhauses – schon seit Jahren ein Abrisskandidat und heute einer der größten Lost Places der Osnabrücker Innenstadt – fordert dem Symphonieorchester, das Askins Istanbul-Porträt umsetzt, eine akustische Meisterleistung ab.

Sie ist nicht die einzige tech­nische Herausforderung für die Festivalmacher: Jeder Abend splittet sich in fünf Routen zu je drei Produktionen und Spielstätten – Farben von Rot bis Lila erleichtern die Orientierung. Start und Ende ist jeweils am Hauptsitz des Theaters, in dem Thomas Köcks „Antigone. Ein Requiem“ den gemeinsamen Auftakt bildet. Nach fünf Stunden klingt das Ganze draußen auf einem chilligen „Beach“ aus.

Für die Zuschauenden sieht das alles easy aus, fürs Orgateam ist es Stress. Die Transfers von Spielstätte zu Spielstätte, per Busshuttle und zu Fuß, müssen exakt getaktet sein, denn die Produktionen und die Entfernungen zwischen ihnen sind nicht gleich lang. Imbiss-­Stationen sind zu bestücken, Wegweiser müssen bereitstehen.

„Die Vorbereitungen sind extrem aufwändig“, erzählt Tobias Fritzsche, Sprecher des Theaters. „Da ist das Scouting der Orte, das ist oft fast detektivisch. Überall muss Licht- und Tontechnik rein, Bestuhlung, die sich als eine der Härten des Festivals erweist: Ein Sitzkissen dabeizuhaben, schadet nicht. Es geht um Brand- und Lärmschutz, Toiletten, Fluchtwege.“ Die Theatercrew ist an den drei Festivalabenden über die halbe Stadt verteilt. „Spannend“, sagt Fritzsche, „aber auch echt ­kompliziert“.

Die 2022er-Ausgabe von Spieltriebe hat zwar kein Motto, aber einen roten Faden gibt es: sie stellt thematisch die Türkei ins Zentrum, das Partnerland der Spielzeit. Die Kontraste dabei sind groß: Alle Sparten sind vertreten, vom Schau­spiel bis zum Tanz. Es geht um Innensichten, Gesellschaftsvisionen. Osnabrücks Tanzdirektorin Marguerite Donlon lässt in „Kick. Flip. Tanz“ Skating- und Tanzmoves verschmelzen, Fazıl Say, Komponist aus Istanbul, in „Patara“, einem Quartett für Sopran, Neyflöte, Klavier und Schlagzeug, Orientalisches mit Mozart.

Das Festival

Spieltriebe: 9. bis 11. 9., Osnabrück, Theater am Domhof. Programm auf www.theater-osnabrueck.de

Nicht alle Spielstätten sind so neu im Spieltriebe-Geschehen wie die Ypso-Leerstände. Der ­Hasefriedhof ist eine Wiederholung, auch die herrlich undergroundige Skatehalle. Das Festival war schon an vielen Orten der Stadt gewesen, von der Tischlerei bis zum Bunker, von der Indoor-Spielarena bis zum Gutshof, von einer Schanze aus dem Dreißigjährigen Krieg bis zum Distributionslager eines Servietten­herstellers.

Die diesjährige Ausgabe führt uns in die Open-Space-Bürolandschaft einer extravaganten Kreativ­agentur, in eine Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie. Aber sie führt uns auch in die hauseigene Kleinbühne Emma-Theater und auf zwei Bühnen des Instituts für Musik der Hochschule Osnabrück, und das ist dann eher praktisch als spannend. Zudem setzt Spieltriebe stark auf Musical- und Schauspiel-Studierende, auf Bevölkerungspartizipation. Elf Produktionen gleichzeitig zu besetzen, reizt jedes Ensemble aus.

Spieltriebe versteht auch seine neunte Ausgabe als Reise ins Unbekannte, ins Junge. Bizarrerie und Skurrilität haben das Format bisher geprägt, Witz und Überraschung, Ernst und der Mut zur Utopie, auch als Experimentierfeld der Avant­garde. Mokrusch dürfte wissen, was er an den Spieltrieben hat: Sie verleihen seinem Haus nachhaltig Profil und etwas überregionale Wahrnehmung.

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