piwik no script img

Werkstätten für Menschen mit BehinderungAbleismus am Arbeitsplatz

Auf Twitter trendet der Hashtag #IhrBeutetUnsAus. Menschen mit Behinderung üben Kritik an Werkstätten.

Blick in eine „Werkstatt für behinderte Menschen“ (WfbM) der Lebenshilfe Werkstätten gGmbH Foto: ari/imago

Berlin taz | „Du bist es nicht Wert, dass deine Arbeit auch als solche anerkannt wird.“ Das twitterte Use­r:in @Johannissaft unter dem Hashtag IhrBeutetUnsAus. @Johannissaft hat den Hashtag ins Leben gerufen, um auf die Unterbezahlung in Werkstätten für Menschen mit Behinderung aufmerksam zu machen. Die Resonanz war enorm. Etliche Betroffene meldeten sich zu Wort, um ihre Empörung über fehlende arbeitsrechtliche Mindeststandards für Menschen mit Behinderung auf der Plattform zum Ausdruck zu bringen.

In Artikel 27 der UN-Behindertenrechtskonvention wird das gleiche Recht auf Arbeit für Menschen mit Behinderung festgeschrieben. Dies beinhaltet auch das Recht auf die Möglichkeit, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen. In vielen Werkstätten für Menschen mit Behinderung ist dies jedoch nicht gewährleistet. Betroffene berichten via Twitter von Löhnen in Höhe von nur 1,35 Euro pro Stunde. Use­r:in @peacockaffair schrieb beispielsweise, dass er:­sie zwei Jahre lang 40 Stunden pro Woche Logo- und Namensschilder produziert hatte und dafür einen Lohn von lediglich 10 Euro im Monat bekam.

Rechtlich ist die Unterschreitung der Mindestlohngrenze möglich, da viele arbeitsrechtliche Schutznormen für Menschen, die in Werkstätten arbeiten, nicht gelten. Sie werden rechtlich nicht als Ar­beit­neh­me­r:in­nen angesehen. Dies soll unter anderem einen erweiterten Kündigungsschutz gewährleisten, ermöglicht auf der anderen Seite aber eine enorme Unterschreitung des gesetzlichen Mindestlohns.

Demeter, dm, Airbus und fritzkola – das sind nur einige Unternehmen, die derzeit in der Kritik stehen, die Arbeitskraft von Menschen mit Behinderung auszunutzen. Der Getränkehersteller Fritzkola antwortete in einem Tweet auf die Anschuldigungen und rechtfertigte die Ungleichbezahlung etwa damit, dass die Werkstätten weiterführende Leistungen wie die Förderung von Persönlichkeitsentwicklung und Integration erbrächten. Außerdem würden Menschen mit Behinderung staatliche Hilfen zum Lebensunterhalt erhalten und seien deswegen nicht auf den Lohn angewiesen.

Auch die kirchlichen Träger Diakonie, Caritas und Bethel wurden in den sozialen Medien adressiert. Angesprochen auf die Ungleichbehandlung von Menschen mit Behinderung antworten diese oft nur, dass die Betroffenen doch glücklich in den Werkstätten seien, heißt es auf der Plattform. Die Europaabgeordnete der Grünen, Katrin Langensiepen, forderte einen Mindestlohn und ein Streikrecht für in Werkstätten arbeitende Menschen. Sie verwies auf die Haltung der EU-Kommission und des EU-Parlaments, die die Finanzierung solcher Projekte auslaufen lassen wollen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

13 Kommentare

 / 
  • Dies ist ein sehr lesenswerter Beitrag zum Thema



    www.brandeins.de/m...n/werkstattbericht

  • Man sollte daran denken, dass Werkstätten für Behinderte Rehabilitationseinrichtungen sind. Leider mit einem sehr geringen Erfolg.



    Den Wechsel in den Arbeitsmarkt gelingt in weniger als 1%. aller Mitarbeiter. Das führt zu grundsätzlichen Überlegungen. Schon die Begriffe "Eingangstrainigsbereich" oder "Berufsbildungsbereich" die vorgeschrieben werden, lassen völlig falsche Erwartungen aufkommen. Es wird nur auf die Bedürfnisse der Werkstatt selbst hin trainiert. Das betrifft sehr einfache Routinearbeiten, die draußen nicht mehr vorkommen. Möglicherweise ist das hohe Ziel der Eingliederung in den Arbeitsmarkt eine Illusion. Dann aber sollte man das offen sagen. Danach kann überlegt werden, wie es ehrlicher weiter gehen kann und wie die Betroffenen individueller gefördert werden können. Ein Lohn, der zum größten Teil subventioniert werden müsste, ist auch nur eine verschleierte Grundsicherung.

  • In den Werkstätten für Menschen mit Beeinträchtigung sind Menschen beschäftigt, die in gewinn- und leistungsorientierten Unternehmen keine Arbeit bekommen, weil sie eben beeinträchtigt sind. Es geht hier vor allem darum, Tagesstrukturen und Aufgaben zu schaffen für diese Menschen. Wenn sich mehr Unternehmen finden, die Menschen mit Beeinträchtigungen - und ich meine überwiegend starke kognitive und/oder Beeinträchtigungen - einstellen, dazu natürlich auch die notwendigen Assistenzkräfte, die dann noch ihren Betrieb völlig barrierefrei gestalten, dann braucht es auch nicht mehr so viele Werkstätten für Menschen mit Beeinträchtigung.



    Im Moment scheint das ein Thema zu sein, zu dem sich alle möglichen Leute äußern, die noch nie eine solche Werkstatt und die dort Arbeitenden besucht haben.

    • @Felis:

      Haben Sie denn schonmal den Hashtag auf twitter oder gar eine WfbM besucht?

      Es äußern sich in den relevanten Beiträgen erstmals eine große Menge an bisher ungehörten Menschen, die seit langem in WfbMs arbeiten, genau deshalb sind diese Beiträge ja auch so aufschlußreich

      • @Jo Hannes:

        Ja, in der Tat, ich habe immer wieder in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung zu tun und mit den Menschen, die dort arbeiten.

    • @Felis:

      Sollte heißen: ...und/oder erhebliche körperliche Beeinträchtigungen

  • In den Werkstätten die ich kenne, und ich kenne viele, werden Sachen erledigt, die normalerweise eine Maschine machen würde. Beispielsweise Kakao in Tüten abfüllen. Ohne die Arbeit wären solche Menschen auf dem freien Arbeitsmarkt arbeitslos und in einer Tagesbetreuung ohne Aufgaben. Ausbeutung ist das nicht in dem Sinne.

  • Ausbeutung bedeutet das Ausnutzen der Arbeitskraft anderer ohne angemessene Gegenleistung. Das ist in Behindertenwerkstätten (ich kenne nur Bethel) jedoch in der Regel nicht der Fall, da durch das hergestellte Produkt kein Gewinn erzielt wird.

    Davon hat @Johannissaft dann wohl nichts.

    Hierbei geht es halt nicht darum irgendetwas herzustellen, sondern den Menschen einen möglichst geregelten Tagesablauf zu ermöglichen. Im Falle der Zahlung eines Mindestlohnes wären die Einrichtungen nicht mehr finanzierbar.

    • @DiMa:

      Auch in Bethel wird wirtschaftlich gearbeitet. Ich rate dazu die Webseite von prowerk zu lesen. Die Ausbeutung muss endlich gestoppt werden. Die EU fordert einen Mindestlohn und Abkehr vom Sondersystem

  • 4G
    49732 (Profil gelöscht)

    Natürlich sollten Behinderte den Mindestlohn bekommen.

    Allerdings müssen dann andere Leistungen der Gemeinschaft für Behinderte ggf. verringert werden!

  • Ich habe selber Zivildienst in einer solchen Werkstatt gemacht. Natürlich gibt es dort Menschen die geistig Defizite haben aber körperlich viel Leisten. Z. B. im Garten- und Landschaftsbau. Es gibt aber auch Menschen die dort den ganzen Tag ein Puzzle aufbauen um zu prüfen ob alle Teile da sind. Dieses Puzzle geht dann für 1 € in den Second-Hand-Laden. Es wäre jetzt schwierig auf diesen Artikel mehre Arbeitstage Mindestlohn zu addieren. Wer kauft dann das Puzzle für 401 €?



    Es gibt solche und solche Werkstätten. Bei vielen werden Menschen in der Tat ausgenutzt.



    Firmen haben halt kein Bock darauf Menschen einzustellen, die nicht zu 100 % im Sinne des Betriebes funktionieren. Da sie aber ein Mindestmaß erfüllen müssen ist der billigste Weg für Teilprozesse die Werkstätten zu nutzen. Die bekommen dann etwas Bullshit-Arbeit und der Betrieb hat sein Soll erfüllt. Das machen böse Firmen genauso wie die ganzen fake hippen Bio-Öko-Wir lieben jeden Menschen-Firmen.

    • @FalscherProphet:

      Ich arbeite in einer WfbM und das pauschale Urteil über den Stundenlohn ist so eher nicht gut, weil viele Faktoren mit reinspielen.



      Nun das aber. Werkstatt bedeutet heutzutage da gehst du hin und bleibst da. Was bedeutet das finanziell. In der Regel erstmal Grundsicherung + einen Teil des Werkstattgehalts. Ja es wird mehr in die Rente eingezahlt (als würde man ca 2,4k brutto verdienen). Aber es bedeutet, das man keine Rücklage bilden kann. Ausserdem ist in den meisten Fällen das komplette Umfeld besetzt mit Menschen mit Behinderung bzw Personal aus dem sozialen Bereich. Man lebt in einer Parallelgesellschaft. Da man keine Rücklagen bilden kann, wird das eigene Ausbrechen daraus erschwert. Umzug? zu teuer. Auto notwendig? zu teuer. Sicherlich gibt es hier Unterstützungsmassnahmen die man in Anspruch nehmen kann (Budget für Arbeit). Aber dies passiert immer aus einer Situation der Abhängigkeit. Zudem wird von den Werkstätten aus nachvollziehbaren Gründen ein zu positives Bild transportiert. Sicher gibt es hier glückliche Menschen, aber viele kennen auch kaum was anderes. Die Angst vor dem Unbekannten ist da ein großer Faktor. Viel an unterschiedlichen Perspektiven zur Werkstatt kommt auch daher, dass Behinderungen halt stark unterschiedlich sind. Und viele Probleme erwachsen auch aus dem vorherigen Weg. Wenn ich schon früh behinderte und nicht behinderte trenne, muss ich nicht erwarten das die sich gegenseitig gut verstehen.

      • @Grenor:

        Danke für deinen sehr differenzierten Kommentar.