Krieg in der Ukraine: Symmetrie der Interessen
Die Gefahr einer nuklearen Eskalation ist groß. Ein Krisenmanagement ist vonnöten. Dazu gehören eine realistische Zielsetzung und klare Kommunikation.
I n der aktuellen Konfrontation mit Russland gibt es viele Gründe zur Sorge. Waffenlieferungen an die Ukraine könnten einen russischen Angriff auf Nato-Gebiet auslösen; Russland könnte mit taktischen Atomwaffen eine konventionelle militärische Niederlage ausbügeln; Russland könnte auf einen Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens mit Gewalt reagieren – das sind nur einige der Möglichkeiten einer Eskalation. Besorgniserregender ist jedoch eine Gefahr, die dieser Krise an sich innewohnt.
Der wichtigste einzelne Faktor, der über das Ergebnis einer Krise zwischen bewaffneten Atommächten bestimmt, ist das relative Gewicht der Interessen. Je größer die Interessen, desto größer die Risiken, die ein Protagonist ins Auge fasst, um sie zu schützen. Und je ungleicher die Interessen, desto einfacher dürfte es sein, die Krise zu einem gütlichen Ende zu steuern. Die Berlinkrise von 1961 und die Kubakrise von 1962 erscheinen beide lehrreich in dieser Hinsicht.
In Berlin 1961 nahmen die Westmächte den Bau der Mauer hin, trotz einer enormen Anspannung mit direkter Truppenkonfrontation. Denn sie erkannten, dass das sowjetische Interesse größer war als ihr eigenes. Aus sowjetischer Sicht hätte ein weiteres Zulassen des Exodus von Auswanderern aus der DDR den ostdeutschen Staat und seine Wirtschaft bis hin zum Zusammenbruch untergraben und das hätte ein Untergraben der sowjetischen Kontrolle über Osteuropa ausgelöst.
Eine stärkere westliche Antwort auf den Mauerbau hätte leicht eine sowjetische militärische Reaktion provozieren können. Dem Westen war das Interesse an Bewegungsfreiheit in Berlin einfach nicht groß genug, um dieses Risiko einzugehen. In Kuba 1962 waren die Rollen umgekehrt verteilt. Die Präsenz sowjetischer Raketen auf der Insel war nicht zentral für sowjetische Interessen, aber für Washington galt sie als direkte Bedrohung der Sicherheit der USA.
ist Mitgründer und Vorstandsmitglied des European Leadership Network und ehemaliger Sonderberater des nationalen Sicherheitsausschusses des britischen Parlaments.
Keiner wird nachgeben
Die darauffolgende Blockade Kubas und die Drohung, notfalls weiter zu eskalieren, genügte, um die Sowjetunion zum Rückzug zu bewegen. Der Gefahr der aktuellen Krise liegt darin, dass keine solche Asymmetrie der Interessen zu erkennen ist. Putin hat sich schwer verrechnet, als er dachte, es gäbe eine, und musste sich jetzt eines Besseren belehren lassen. So gehen inzwischen beide Seiten davon aus, dass es um ihre fundamentalen Interessen geht.
Beide geben sich entschlossen und bereit, kalkulierte Risiken einzugehen, um die Gegenseite zum Einlenken zu zwingen. Das ist die schwierigste und gefährlichste Art von Krise. Um sie zu überstehen, sind drei Dinge jetzt dringend. Erstens müssen wir der lautstarken Debatte über eine mögliche Eskalation der Mittel eine Klarheit über das nötige Vermeiden der Eskalation der Ziele entgegenstellen.
Solange beide Seiten ihre Forderungen und Ziele so formulieren, dass die Gegenseite das als direkte Bedrohung ihrer eigenen vitalen Interessen auffasst, dürfte der Wille zur Eskalation auf beiden Seiten größer sein als die Akzeptanz einer Niederlage. In so einer Krise ist Besonnenheit genauso wichtig wie Entschlossenheit.
Unsere zentralen Ziele müssen sein: dass Russlands Invasion der Ukraine scheitert; dass die Ukraine sich energisch verteidigen kann und nicht dazu gezwungen wird, aus einer Position der Schwäche zu verhandeln; und dass als Ergebnis die Ukraine das Recht haben wird, ihre Freunde und Verbündete selbst zu wählen. Von zentraler Bedeutung ist auch, dass die europäische Sicherheitsordnung intakt bleibt und nicht zu einem Zustand wie vor dem Zweiten Weltkrieg zurückkehrt, als starke Staaten den schwachen straflos Vorschriften machen konnten.
Auf einen beschränkten Sieg zielen
Dass die Nato das russische Militär komplett zerstört, einen Regimewechsel in Moskau anstrebt oder dass die Ukraine der Nato beitritt, außer wenn ihre Regierung und Bevölkerung es wünschen und bisherige Nato-Mitglieder zustimmen – das ist und sollte kein zentrales Ziel der westlichen Politik sein. Manche mögen die beschränkten Ziele zu beschränkt finden, aber in einer Krise zwischen atomar bewaffneten Gegnern ist nur ein beschränkter Sieg erreichbar, kein totaler.
Zweitens sind dringend Maßnahmen erforderlich, um die Ereignisse unter Kontrolle zu halten. Die Spannungen sind so hoch und die Militärs von Nato und Russland befinden sich an einigen Fronten so nahe beieinander, dass Einsatzregeln überprüft werden sollten, um sicherzustellen, dass sie für das Krisenmanagement taugen und keine Auslegungssache für lokale Kommandeure sind.
Es wäre auch weise, mehr nationale militärische Mittel unter geeintes Nato-Kommando zu stellen, um eine größere Konsistenz der Kontrolle über militärische Aufstellungen und Operationen zu erreichen. Und da kleine Verbündete größere in Kriege hineinziehen können, sollten die USA eine größtmögliche Führung über ihre Verbündeten ausüben, um sicherzustellen, dass sie alle Teil einer kohärenten Strategie sind und kein einzelnes Mitglied Handlungen mit gefährlichen Konsequenzen für die anderen treffen kann.
Drittens gibt es einen dringenden Bedarf an besserer Krisenkommunikation, wie das jüngste Fiasko der US-Geheimdienstler zeigt, die ihre Rolle beim Angriff auf russische militärische Mittel in der Ukraine öffentlich machten. Nicht nur müssen die Ziele des Westens klar sein, sie müssen auch klar und einheitlich kommuniziert werden, damit man sie in Moskau nicht missversteht.
Im Moment beschreiben zu viele Leute unterschiedliche Ziele, von einer Schwächung Russlands über das komplette Zurückdrängen russischer Kräfte aus der Ukraine bis zu einer so totalen Niederlage Putins, dass er sie nicht überleben kann. Krisenmanagement muss sowohl unsere vitalen Interessen schützen als auch eine direkte militärische Konfrontation mit Russland vermeiden. All diese Maßnahmen mögen dafür nicht ausreichen, aber sie sind Voraussetzung.
Aus dem Englischen von Dominic Johnson
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