Inklusives Theater in Uruguay: Tanzlastige Informance
In Montevideo fand das erste Inklusionsfestival für performative Künste Uruguays statt. Bewerbungen gab es aus aller Welt.
Sin Límites – ohne Limits hieß die Vorgabe für Uruguays erstes inklusives und barrierefreies Musik-, Theater- und Tanzfestival. Das Besondere: Auf der Bühne standen Künstler*innen mit und ohne Behinderung. An den neun Spektakeln beteiligten sich 132 Artist*innen, unter ihnen 42 mit unterschiedlichen Behinderungen.
Das Festival Internacional de Artes Escénicas Inclusivas war das erste seiner Art in Südamerika und soll zukünftig alle zwei Jahre stattfinden. Und Montevideo ist kein Zufall. Zahlreiche Behindertenorganisationen leisten seit vielen Jahren engagierte Arbeit und die politischen Institutionen waren bereit mitzuziehen.
Im Alltagsleben liegt dennoch vieles im Argen. So ist der öffentliche Nahverkehr wenig behindertengerecht eingerichtet. Rollstuhlfahrer*innen sind im Stadtbild wegen der holprigen Wege nur selten zu sehen.
Zentraler Spielort war das Ballett- und Tanztheater Sodre in Montevideo, das eigens barrierefrei umgerüstet worden war. Inklusion galt vor, auf und hinter der Bühne. Ohne Limits meinte denn auch mehr als barrierefrei in den Saal oder auf die Bühne zu gelangen.
Wer nach dem Programmheft griff, fühlte die Blindenschrift. Für alle sehbeeinträchtigten Personen standen Audiodeskriptionen zur Verfügung. Wo Übersetzungen in Gebärdensprache nicht möglich waren, half ein Verständigungssystem für Personen mit eingeschränktem Hörvermögen.
Tanz mit Rollstuhl
Den Auftakt machte „En mis Zapatos“ (In meinen Schuhen). Ein Tanzspektakel dreier Künstlerinnen – eine im Rollstuhl, eine mit Gehstützen und eine ohne Behinderung –, die das Bewegungsvermögen ihrer Körper einzeln, zu zweit und im Trio ausloteten. Es folgte „El hilo rojo“ (Der rote Faden), eine zeitgenössische Ballettaufführung mit fünf Mitgliedern des Ballettensembles des Sodre und fünf Tänzer*innen mit Behinderungen.
Mit ihren sicheren Bewegungen beeindruckte die von Geburt an blinde Nicole Viera. „Ballett hilft nicht nur bei der Körperhaltung und dem Gleichgewicht, sondern auch beim simplen Laufen auf den kaputten Gehwegen von Montevideo“, lacht sie. Von 30 behinderten Bewerber*innen war sie eine der fünf Ausgewählten für „El hilo rojo“, der ersten inklusiven Ballettaufführung am Sodre.
Was folgte, waren täglich drei Stunden Probe. „Wir haben gelernt, gemeinsam zu arbeiten, uns zu begleiten, uns etwas beizubringen, uns auch zu mäßigen, Unterschiede zu respektieren und einfach unterschiedliche Dinge zu tun“, schildert die 20-Jährige ihre Erfahrungen.
Mit sechs hatte sie ihre Leidenschaft für das Ballett entdeckt, aber auch die Angst, als Blinde mit Sehenden zu tanzen. Mit zehn traute sie sich, in einem Folkloreensemble mitzumachen. Schließlich wagte sie den Sprung ins Ballett. Hier dominiere die Hegemonie des perfekten Körpers: Schlank und mit perfekter Fußdrehung, so Viera. Diese Hegemonie schließe aus und nicht ein. „Bei ‚El hilo rojo‘ wird das aufgebrochen“, sagt sie.
Gott ist eine behinderte Frau
In der Komödie „Castigo del cielo“ (Strafe des Himmels) kommt ein Toter in den Himmel. Überrascht stellt er fest, dass Gott eine junge und behinderte Frau ist. Der Himmelseintritt wird zur Begegnung mit den eigenen Vorurteilen und dem eigenen Verhalten gegenüber dem Anderen. Zugleich ist „Castigo del cielo“ eine Reise durch das Leben des britischen Mediziners John Langdon Down, der das Syndrom umschrieb, das seinen Namen trägt.
Schauspieler*innen mit dem Down-Syndrom standen auch bei „Sin Par“ (Unvergleichlich) auf der Bühne. Bei den Tanz- und Theaterszenen des aus Spanien angereisten Ensembles geht es um Ausdrucks- und Körpersprache in unterschiedlichen Kontexten.
Ausgewählt wurden die neun Spektakel unter der Vorgabe der Inklusion behinderter Protagonist*innen sowie rein praktischen Aspekten ihrer Realisierung. Dass das Programm etwas tanzlastig war, lag nicht am Spielort, sondern an der enormen Anzahl an Bewerbungen von Projekten aus diesem Spektrum. Bei freiem Eintritt waren alle Events rasch ausgebucht.
Inklusion auch bei den Workshops. Zweiundzwanzig Personen verteilen sich im Raum, eine sitzt im Rollstuhl. Alito Alessi holt sich einen Stuhl und setzt sich dazu. „Säße nur eine Person auf einen Stuhl, wäre sie isoliert“, sagt er. Es ist die erste Lektion im Workshop „DanceAbility“, der so heißt wie die Methode, die der US-Amerikaner entwickelt hat. Die Auflösung der Isolation ist Inklusion.
Den kleinsten gemeinsamen Nenner finden
„Einige Schulen wollen nur mit den fittesten Behinderten arbeiten.“ Dort gehe es um das Geschick und Können des Einzelnen. Das sei auch wertvoll und interessant, aber Alessis Interesse geht in eine andere Richtung. „Bei jeder Person gilt es, vier Grundmerkmale zu erkennen“, sagt er. Kann sie etwas sehen, kann sie ihren Körper von einer Stelle zu einer anderen bewegen, versteht sie das Ursache-Wirkung-Prinzip und reagiert sie auf die Welt um sie herum.
So erfahre er den kleinsten gemeinsamen Nenner einer Gruppe und weiß, was alle können. „Es geht darum, Menschen mit und ohne Behinderung durch Tanz und Bewegung zu verbinden.“ Am Ende präsentierte sich die Gruppe auf der Plaza Independencia im Zentrum von Montevideo mit einer Informance – einem Mix aus Information und Performance.
Das Festival hat die Behindertenorganisationen untereinander und mit anderen zivilgesellschaftlichen Gruppen enger verbunden. Unterstützt wurden sie vom Netzwerk der Kulturorganisationen der EU-Mitgliedsländer Eunic, darunter das Goethe-Institut in Montevideo. Das Abschlussresümee zog Sodre-Intendant Martín Inthamoussú: „Wir haben noch viel zu verbessern, aber wir sind weiter als vor dem Festival.“
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