Hilfsbereitschaft für Geflüchtete: „Empathie ist fragil“
Man kann emotionale Resonanz im Gehirn messen, sagt die Neurowissenschaftlerin Tania Singer. Ein Gespräch über die Chancen und Grenzen von Empathie.
taz am wochenende: Frau Singer, für ukrainische Flüchtlinge gibt es gerade sehr viel Empathie. Viele Menschen engagieren sich ehrenamtlich. Überrascht Sie die Hilfsbereitschaft?
Tania Singer: Nein, wir haben das ja schon 2015 erlebt, als viele Syrer nach Deutschland kamen. Der Krieg ist so nah, vor unserer Haustür, es trifft unseren Nachbarn. Das lässt die Empathie und die Hilfsbereitschaft noch mal stark steigen.
Sie forschen im Bereich der sozialen Neurowissenschaften und grenzen Empathie von Mitgefühl ab. Was ist der Unterschied?
Empathie bedeutet, dass man mit dem anderen mitschwingt, sich einfühlt. Sie ist die Fähigkeit der emotionalen Resonanz. Wir sehen Bilder von den Flüchtlingen, von ihrem Leid, und uns kommen die Tränen. Das ist eine empathische Reaktion. Empathie muss sich nicht auf ein negatives Gefühl beziehen, man kann auch mit der Freude des anderen mitschwingen. Mitgefühl dagegen bezieht sich immer auf Leid, es ist aber eine ganz andere Reaktion. Mitgefühl entspringt einem evolutionär sehr alten Care-System in uns, es hat mit Fürsorge, Wärme und Liebe zu tun. Man leidet nicht mit, man hat eine starke Motivation zu helfen und verspürt oft positive Emotionen.
Sie haben in Untersuchungen festgestellt, dass dabei jeweils unterschiedliche Hirnregionen aktiv sind.
Wenn ich Menschen leiden sehe und Empathie empfinde, dann werden Netzwerke im Gehirn aktiviert, die auch aktiv sind, wenn ich selbst leide. Das sind Netzwerke, die mit dem Alarmsystem zu tun haben, mit negativen Emotionen und Schmerz.
ist Professorin und wissenschaftliche Leiterin des Labors für Soziale Neurowissenschaften der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin.
Beim Mitgefühl ist das anders?
Ja, da werden dieselben Netzwerke aktiv wie beim Anblick einer geliebten Person, etwa des eigenen Kindes. Dieses System ist ein sehr altruistisches System.
Die Helfer:innen hören die Geschichten der Geflüchteten, sie sehen ihr Leid. Das kann auch überfordern.
Empathie ist erst mal eine gesunde Reaktion. Ich merke, dass jemand leidet. Aber wenn ich zu sehr mitleide, wenn die Trennung zwischen mir und dem anderen verschwimmt und das Leid des anderen sich anfühlt wie meines, kann das auch zu empathischem Stress führen. Menschen, die vielleicht traumatisiert waren und plötzlich mit dem Trauma anderer konfrontiert werden, sind dafür besonders anfällig. Man muss nicht mal selbst etwas Schlimmes erlebt haben, Traumata werden auch über die Generationen weitergegeben, etwa die Erfahrungen unserer Großeltern im Zweiten Weltkrieg. Wenn einen Spuren dieser Erinnerung überfluten, kann man sich eigentlich nur noch zurückziehen und sich erst mal um sich selbst kümmern. Dies nennen wir das Selbstmitgefühl.
Was können Helfer:innen tun, um sich gegen Überforderung zu wappnen?
Das ist nicht so einfach. Helfende Berufe werden ja richtig gelernt, das ist eine Kunst. Man geht als Therapeut über Jahrzehnte in Selbstausbildung und Supervision, um das Leiden der anderen jeden Tag aushalten zu können.
Im Moment helfen viele Menschen ehrenamtlich. Was weiß man aus der Empathieforschung, ist so ein Engagement von Dauer?
Erst mal helfen sich Menschen nach einer Katastrophe, ein Verhalten, was auch als Tend-and-befriend-Hypothese in der Stressliteratur bekannt ist. Man tut sich zusammen, um mit Bedrohungen besser umzugehen. Das ist aber nur ein erster Reflex. Wenn man aus empathischem Stress oder aus Empathie heraus hilft, dann ist das natürlich auch hilfreich, aber meist nicht sehr nachhaltig. Sobald die berührenden Bilder aus der Presse verschwinden, lässt auch die Hilfsbereitschaft nach. Mitgefühl dagegen ist keine flüchtige Emotion, sondern eine soziale Motivation, sie kann sogar zu einer dauerhaften Lebenseinstellung werden. Wer Mitgefühl empfindet, kümmert sich auch noch nach Monaten um Hilfsbedürftige. Nachhaltiges Mitgefühl muss aber häufig erst kultiviert werden über längere Zeit.
Wenn ich gerade mit den Ukrainer:innen mitfühle, bleibt wenig Raum für die Opfer anderer Katastrophen. Ist Empathie endlich?
Auch das hat mit empathischem Stress zu tun. Wenn man zu viel Leid spürt, macht man irgendwann dicht. Bei Liebe und Fürsorge ist das anders, da gibt es keine Grenze. Zu viel empathischer Stress kann auf lange Sicht zum Burn-out führen, Mitgefühl nicht.
Es ist auffällig, dass die Hilfsbereitschaft mit den Ukrainer:innen etwa in Osteuropa sehr viel größer ist als für irakische oder syrische Flüchtlinge, die an der belarussischen Grenze festsitzen.
Empathie hängt mitunter auch davon ab, ob man glaubt, dass jemand zur eigenen Gruppe gehört oder ihr nahe steht. Für Familienangehörige oder Freunde empfindet man leicht Empathie, auch für Menschen mit einer ähnlichen sozialen Identität, der sogenannten Ingroup. Wir haben dieses Ingroup-Outgroup-Verhalten bei einem Empathie-Experiment in der Schweiz untersucht, mit Fans des FC Zürich. Schauspielern wurden dabei Schmerzreize an den Händen zugefügt. Dachten die Untersuchten, es handle sich um einen Fan ihres Vereins, zeigte der Scan in ihrem Hirn eine Aktivierung des Netzwerks für Empathie. Dachten sie, ein Fan des Rivalenvereins Basel sei betroffen, gab es diese Reaktion nicht, stattdessen war Aktivität in Belohnungsarealen zu sehen, also Schadenfreude. Empathie ist fragil, sie kann sehr schnell kippen.
Eine Ukrainerin berichtete in der taz von einem Telefonat mit ihrem Vater in Kiew. Auf den Straßen dort hätten verbrannte russische Leichen gelegen. Sie schrieb: „Es war schockierend festzustellen, dass uns diese Tatsache glücklich machte.“ Was ist hier mit der Empathie passiert?
In einem Krieg sind Feind und Freund, also die In- und die Outgroup, ganz klar definiert. Wenn schon bei Fußballfans Schadenfreude gemessen wird, kann man sich vorstellen, dass bei dieser Ukrainerin das Gefühl der Genugtuung noch zehnmal stärker ist.
Sie sagen, man könne Mitgefühl lernen und sollte es gar zum Schulfach machen.
Man kann die Kreise des Mitgefühls weiten und versuchen, die Unterscheidung zwischen Gruppen aufzulösen. Dafür gibt es mentale Trainingsprogramme. Das Mitgefühl ist dann nicht nur für die Ukrainer und die Opfer gedacht, sondern auch für die Russen, die demonstrieren gehen und eingesperrt werden. Und vielleicht sogar für die Russen, die falsch informiert werden und gar nicht wissen, dass man sie anlügt. Die großen Meister des Mitgefühls im Buddhismus üben jeden Tag, selbst für Diktatoren wie Putin Mitgefühl zu empfinden.
Wozu sollte man das trainieren?
Das bedeutet ja nicht, dass man damit Putins Handlungen rechtfertigt, aber man kann versuchen, sich einzufühlen und so die tieferen Ursachen für seine Handlung besser zu verstehen und damit auch den breiteren systemischen Zusammenhang des Krieges.
Haben Sie ein Beispiel für eine Übung des Mitgefühls?
Bei einer relativ einfachen Übung, den sogenannten Dyaden, telefonieren zwei Menschen für zwölf Minuten miteinander. Erst reflektiert eine Person über eine Frage, die ihr vom Gegenüber gestellt wird, zum Beispiel: Was war schwierig? Es folgt eine zweite Frage, die das Care-System stärkt, etwa: Wofür warst du heute dankbar und wie hat sich das angefühlt? Dann gibt es einen Rollenwechsel. Man unterbricht sich nicht, sondern hört einfach zu. Das übt man jeden Tag über Wochen. Diese Übung ist besonders effektiv, um das empathische Zuhören zu fördern, die Akzeptanz schwieriger Emotionen, aber auch Dankbarkeit und Mitgefühl zu stärken. Man fühlt sich selbst gehört, gesehen, aufgehoben.
In Ihren Experimenten haben Sie nachgewiesen, dass mentales Training tatsächlich die Hirnstruktur verändert.
Das können wir nicht für diese einzelne Partnerübung nachweisen. Sie war Teil eines groß angelegten Forschungsprojekts, dem ReSource Projekt. Dabei haben wir über viele Jahre zu den Effekten von mentaler Schulung geforscht. Die Teilnehmer haben sehr viele unterschiedliche Übungen gemacht. Nach drei Monaten sozio-emotionalem Training konnten wir im Gehirn eine Verdickung der grauen Substanz auch in neuronalen Netzwerken sehen, die bei Mitgefühl aktiviert werden.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Das bedeutet ja, dass wir mit etwas mentalem Training unser Gehirn verändern und zu besseren Menschen werden könnten.
Ja. Wobei man dazu sagen muss: Wir haben dieses System des Mitgefühls, diese Liebesfähigkeit ja in uns. Wir kultivieren damit nur etwas bereits im Menschen Angelegtes. Nun kann man verschiedene Motive und Fähigkeiten fördern. Man kann sich auf Macht ausrichten oder auf Wettbewerb. Oder auf Angst. In den Medien wird mit schlechten Nachrichten ja ständig das Alarmsystem angesprochen. Wenn das Angstsystem dauerhaft überaktiviert wird, kann das irgendwann zu chronischem Stress und Krankheit führen.
Besser wäre es, sich in Mitgefühl zu üben?
Das wäre gesünder und sicherlich auch hilfreich für den sozialen Zusammenhalt. Ziel wäre es, dass man Fürsorge entwickelt für jeden Menschen, der leidet, und nicht nur die aus der eigenen Gruppe. Es ist wie mit dem Körper: Wenn wir jeden Tag unsere Muskeln bewegen, werden sie stärker. Das gilt auch für unsere geistigen Fähigkeiten.
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