Tagebuch eines Schriftstellers: „Denk mit einem Lächeln an mich“
Andrej Kurkow schreibt Romane über die Ukraine und Russland. In seinem Tagebuch erzählt er nun von einer Flucht durch den Westen des Landes.
Vor der Invasion
Es ist noch nicht lange her, da scherzte ein Freund mit mir über die Wettervorhersage für Kiew. „Morgen wird es überwiegend bewölkt, mit sonnigen Abschnitten und leichtem Ostwind“, sagte er. „Die Wahrscheinlichkeit einer russischen Invasion liegt bei 35 Prozent.“ (…)
Meine Mutter erzählte mir, als ich noch ein Junge war, wie sie am Morgen des 22. Juni 1941, dem Tag des Naziangriffs auf die Sowjetunion, mit ihren Eltern in einem baufälligen Holzboot den Fluss Wolchow überquerte. Ihr Vater war auf dem Weg an die Front. Sie hat ihn nie wiedergesehen.
Heute frage ich mich, ob sie diesen Krieg kommen sahen. Haben sie im Vorfeld auch so gelebt wie ich und meine ukrainischen Landsleute heute, in einem Wechselbad der Gefühle? Haben sie auch nach Westen geschaut, so wie wir nach Osten geschaut haben, und sich gefragt: Wird er angreifen? Gingen sie dabei auch ganz normal ihrem Leben nach? (…)
War ein Exodus im Gange?
Es war Ende Februar, als ich bemerkte, dass die Straßen bei meinen regelmäßigen Nachmittagsspaziergängen seltsam ruhig waren. Das machte mich stutzig: War da ein Exodus im Gange? (…) Ich sprach mit meinen europäischen Diplomatenfreunden darüber. Würde er es wirklich tun? Würde er einmarschieren?
Andrej Kurkow, geboren 1961 in St. Petersburg, lebt seit seiner Kindheit in Kiew. Er studierte Fremdsprachen und veröffentlichte zahlreiche Drehbücher und Romane.
Nein, sagten sie, Wladimir Putin plane etwas in den besetzten Gebieten in der Ostukraine, aber es gäbe keinen Grund, einen umfassenden Angriff zu befürchten. Und so zuckten wir mit den Schultern, als meine Frau Elizabeth, die Britin ist, eine E-Mail vom Auswärtigen Amt erhielt, in der es hieß, sie solle erwägen, das Land zu verlassen, solange noch kommerzielle Flüge verfügbar seien. (…)
Am Abend des 23. Februar saßen wir mit Freunden an unserem Esstisch im Zentrum Kiews. Wir scherzten, ob dies unsere letzte Mahlzeit hier sein würde. Die Journalisten am Tisch lachten nicht, denn sie hatten gehört, dass der Krieg kommen würde. Er würde in der Nacht beginnen. Sie hatten recht.
Donnerstag, 24. Februar
Die ersten russischen Angriffe rund um Kiew erfolgten gegen 5 Uhr. Meine Frau und ich wurden von Explosionen geweckt; es waren drei. Dann, eine Stunde später, zwei weitere, gefolgt von den letzten kostbaren Momenten der Stille. (…)
Am Tag vor der Invasion waren unsere Kinder – darunter unsere Tochter, die gerade aus London eingeflogen war – mit Freunden in die schöne Stadt Lemberg in der Westukraine gefahren. Sie wollten die Cafés, Museen und die mittelalterlichen Straßen der Altstadt besuchen.
Wehrhafte Verteidiger
Am selben Tag traf ich meinen alten Freund Boris, einen armenischen Künstler, der jetzt ukrainischer Staatsbürger ist und seit 30 Jahren mit seiner ukrainischen Frau in Kiew lebt. Er sah verwirrt aus. Er leidet seit Jahren an Krebs und war gerade nach einer Operation aus dem Krankenhaus nach Hause gekommen.
„Wissen Sie, ich habe ein großes Problem mit meinem Gedächtnis“, beklagte er sich bei mir. „Nach der letzten Operation habe ich mir eine Waffe gekauft, um Kiew zu verteidigen. Aber meine Frau hat mir verboten, sie zu Hause aufzubewahren. Ich habe sie einem Freund zur Aufbewahrung gegeben, und jetzt weiß ich nicht mehr, welchem Freund. Ich habe alle gefragt.“
Wir lachten, denn Boris hat zu viele Freunde. Halb Kiew liebt ihn, vertraut ihm und zählt ihn zu seinen Freunden. (…) Als die Russen uns angriffen, fragte ich mich, ob Boris seine Waffe gefunden hat. Ich weiß es immer noch nicht. Aber ich bin sicher, dass er irgendwo das Militär unterstützt. Vielleicht füllt er Sandsäcke für Barrikaden. Vielleicht hebt er Schützengräben aus. (…)
Freitag, 25. Februar
Am nächsten Tag beschlossen wir, aufs Land zu fliehen, zu unserem Haus in Lazarivka, einem Dorf zwischen Kiew und Schytomyr, nahe der polnischen Grenze. Es liegt etwa 90 Kilometer von der ukrainischen Hauptstadt entfernt. Vor der Abfahrt überprüfte ich Google Maps: Die Ausfahrt von Kiew nach Westen war offen. Wir packten ein paar Sachen, holten Lebensmittel aus dem Kühlschrank und machten uns auf den Weg.
Flüchtende aus Donezk und Luhansk
Putin bewegte sich schneller, als Google Maps sich aktualisierte. Als wir die westliche Ausfahrt erreichten, war der Andrang so groß, dass der Verkehr stillstand. Ich sah Nummernschilder aus dem ganzen Land, aus Dnipro, Saporischschja, Charkiw, sogar aus den östlichen Städten Donezk und Luhansk. Diese Fahrer mussten mindestens zwei Tage lang unterwegs gewesen sein. Man sah es an ihren blassen Gesichtern, an ihren müden Augen, an der Art, wie sie ihr Auto fuhren. (…)
Von unterwegs rief meine Frau ihre Freundin Lena an, eine Musiklehrerin an der Kiewer Kunstschule, und fragte, ob sie mit uns fliehen wolle. Lena (…) brauchte einige Augenblicke, bevor sie sich entschied, mit ihrem Sohn mitzukommen. (…)
Die Fahrt nach Lazarivka dauert normalerweise etwa eine Stunde, an diesem Tag waren es viereinhalb. Fast alle fuhren auf der linken Seite aus der Stadt heraus; auf der rechten Seite der Autobahn waren Militärfahrzeuge in beide Richtungen unterwegs. Geschütze, Panzer, mobile Artillerie – sie erinnerten uns daran, dass wir uns jetzt im Krieg befanden. Nicht, dass wir es vergessen würden. (…)
Zwei ukrainische Kampfjets flogen im Tiefflug über unser Auto. Wir hörten Explosionen, die immer lauter wurden, je weiter wir vorankamen. Der Nachrichtensprecher im Radio berichtete von einem Gefecht in Gostomel, etwa 30 Kilometer nordwestlich von Kiew – da wurde mir klar, wo wir waren: Gostomel, in der Nähe des Frachtflughafens.
Zerstörung in Gostomel
Dem Radio zufolge waren die Russen dort mit mehr als 30 Hubschraubern gelandet. Es war ihnen gelungen, das größte Frachtflugzeug der Welt zu zerstören. Das Flugzeug mit dem Namen Mriya oder Dream – der offizielle Name war Antonow An-225 – war in den 1980er Jahren in der Kiewer Fabrik des sowjetischen Luftfahrtkonstrukteurs Oleg Antonow gebaut worden.
Diese Fabrik war der Grund, warum meine Familie von Leningrad nach Kiew gezogen war. Nachdem er die sowjetische Armee verlassen hatte, bekam mein Vater dort eine Stelle als Testpilot. Jahrelang wohnten wir in einer Wohnung mit Blick auf die Start- und Landebahn – dieselbe Start- und Landebahn, die jetzt von russischen Invasoren angegriffen wurde.
Ich schaltete das Radio aus, als wir das Dorf erreichten. Es war friedlich. Keine Explosionen, keine Schüsse. (…) In unserem Dorfhaus rief mich ein Freund aus Kiew an und fragte, wo wir seien. Ich sagte es ihm. Geh weiter nach Westen, warnte er, die Russen sind überall. (…)
Ich schaute nachdenklich auf meinen Schreibtisch. (…) Müssen wir gehen? Ich erinnerte mich an die Panzer und Kanonen auf der Autobahn. „Lass uns zu den Kindern nach Lemberg fahren“, sagte ich zu meiner Frau. Elizabeth verabschiedete sich von den befreundeten Nachbarn. Nina weinte und umarmte meine Frau. Ihr Ehemann Tolik stand einfach nur da. Er stützte sich auf einen Gehstock. Seine linke Hand zitterte.
Samstag, 26. Februar
Die 420 Kilometer lange Strecke nach Lwiw dauerte 22 Stunden. Die Autos auf der dreispurigen Autobahn fuhren langsam, manchmal blieben sie minutenlang stehen. Das Fahren war anstrengend, ich schlief gegen 2 Uhr nachts ein; wir mussten auf einer Nebenstraße anhalten. Kurz vor Sonnenaufgang reihten wir uns wieder in die Fahrzeugschlange ein und erreichten schließlich am Morgen die Stadt. (…)
Wir fanden unsere Kinder desorientiert und traurig vor. Nicht weit von der Wohnung entdeckte ich ein Waffengeschäft. Es war noch geschlossen, aber eine lange Schlange bildete sich bereits davor. Männer, Jungen, Mädchen – alle warteten darauf, dass es öffnete. (…)
Abschied per SMS
Dann erhielt ich eine Nachricht von einer Freundin, Swetlana, die noch in Kiew war. „Ich verabschiede mich vorsichtshalber. Wir wurden vor schrecklichem Beschuss gewarnt. Ich werde in meiner Wohnung bleiben. Ich bin es leid, in die Keller zu rennen. Wenn etwas passiert, denk mit einem Lächeln an mich!“ (…)
Elizabeth und ich wollten unsere Tochter aus dem Land und in ein Flugzeug zurück nach London bringen. Die Einreise nach Polen, das direkt neben Lemberg liegt, schien unmöglich; die Wartezeit an der Grenze betrug fünf Tage. Stunden nach unserer Ankunft in Lemberg saßen wir also, immer noch müde, wieder in unserem Auto und fuhren zur ungarischen Grenze.
Die Fahrt von Lemberg zur ungarischen Grenze führt über den Teil der Karpaten, der sich bis in die Ukraine erstreckt. Es ist eine landschaftlich reizvolle Strecke. Die Hotels waren überfüllt, aber ein Bekannter hatte uns einen Tipp für eine Skiherberge gegeben, in der vielleicht noch etwas frei war. Wir fanden sie und wurden in Schlafsäle geführt, die vorbereitet und dann vergessen worden waren; es sah nicht so aus, als hätte dort in letzter Zeit jemand gewohnt. (…)
Sonntag, 27. Februar
Wir brachen früh auf, um unsere Tochter über die ungarische Grenze zu bringen. Zum Glück war die Straße noch relativ frei. Um 10 Uhr morgens waren wir in Sichtweite der Grenze.
Aus dem Englischen von Julia Hubernagel. Mit freundlicher Genehmigung von www.grid.news
Anmerkung: Andrej Kurkow und seine Frau brachten ihre Tochter sicher nach Ungarn und fuhren dann zurück in die Ukraine. Sie wollen in ihrem Land bleiben. Im Diogenes Verlag ist zuletzt Kurkows Roman „Graue Bienen“ erschienen.
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