Stiko-Vorsitzender über Kinderimpfung: „Rolle der Kinder wird überbetont“
Nicht die ungeimpften Kinder, sondern die ungeimpften Erwachsenen treiben die Pandemie voran, sagt der Stiko-Vorsitzende Thomas Mertens.
taz: Professor Mertens, in Deutschland tobt die vierte Coronawelle, weil zu wenige Menschen geimpft sind. Jetzt hat die Europäische Arzneimittelbehörde EMA die Impfung der 5- bis 11-Jährigen zugelassen. Können wir damit die Impflücken schließen?
Thomas Mertens: Ganz klar: nein. Ich glaube, die Rolle der Kinder in der Pandemiebekämpfung wird einfach von manchen überbetont.
Die Infektionszahlen in dieser Altersgruppe sind aber enorm.
Tatsächlich flacht die Welle bei den Kindern gerade etwas ab. Das könnte an den Maßnahmen zur Hemmung der Virusübertragung liegen, die es aktuell an den Schulen wieder gibt. Man muss hier auch deutlich zwischen Infektionszahlen und Erkrankungszahlen unterscheiden. Entscheidender sind aber ohnehin die Infektionszahlen bei den 18- bis 59-Jährigen, von denen bekanntermaßen zu wenige geimpft sind und die wir auf den Intensivstationen sehen. Diese mobilen 18- bis 59-Jährigen stecken sich untereinander an – auch wenn viele Kinder geimpft wären. Wenn wir es nicht schaffen, die 18- bis 59-Jährigen ausreichend zu impfen, dann wird das dazu führen, dass wir auch noch eine fünfte Welle bekommen. Natürlich sind auch die Booster-Impfungen wichtig, vor allem auch bei Menschen mit großem Risiko für schwere Erkrankung.
Das klingt jetzt nicht nach einer schnellen Impfempfehlung für alle Kinder ab 5 Jahren vonseiten der Stiko …
Soweit ich informiert bin, wird der Impfstoff für die Kinder ohnehin erst um den 20. Dezember geliefert. Es ist unser Plan, die verfügbaren Daten zur Krankheitslast, zu möglichen Impfnebenwirkungen und zum Einfluss der Kinder auf das weitere Pandemiegeschehen bis dahin auszuwerten und auf dieser Grundlage eine Stiko-Empfehlung abzugeben.
Worin genau wird sich dieser Kinderimpfstoff von dem für Erwachsene unterscheiden?
In der Dosis. Die Altersgruppe der 5- bis 11-Jährigen erhält ein Drittel der Wirkstoffmenge, die Älteren verabreicht wird. Also statt 30 nur 10 Mikrogramm.
Es gibt ja jetzt schon Ärzte, die Kinder unter 12 impfen. Teilen die dann einfach die Impfmenge?
Wohl ja, aber das stelle ich mir sehr schwierig vor, denn es müssten 0,1 Milliliter des Erwachsenenimpfstoffs verabreicht werden.
Ist bekannt, welche Auswirkungen eine höhere Dosis für Kinder dieser Altersgruppe haben könnte?
Nein. Es gibt nur eine sehr kleine veröffentlichte Dosisfindungsstudie von Pfizer, bei der man dreimal 16 Kinder mit jeweils 10, 20 und 30 Mikrogramm geimpft hat. Dabei ist natürlich rausgekommen, dass die Impfreaktion größer ist, wenn man Kinder mit der Erwachsenendosis impft. Es ist die Frage, ob es dann auch vermehrt zu Nebenwirkungen wie Herzmuskelentzündungen kommt. Das kann man mit nur 48 Kindern nicht untersuchen, das ist ja klar.
Es entsteht jetzt jedenfalls eine zeitliche Lücke zwischen der EMA-Zulassung und der tatsächlichen Verfügbarkeit des Impfstoffs. Ist es aus Ihrer Sicht gerechtfertigt, wenn zum Beispiel Kinder mit Risiko-Erkrankungen schon vorher geimpft werden?
Kinder mit besonderen Risiken sind definitiv die Ersten, die geimpft werden sollten. Das kann auch individuell von Arzt und Eltern entschieden werden. Aber die exakte Dosierung sollte schon gesichert sein.
Wie bewerten Sie aktuell die Gefahr durch Covid-19 für die 5- bis 11-Jährigen?
Auf den Intensivstationen sehen wir nahezu keine Kinder dieser Altersgruppe mit Covid-19. Es sind einzelne Kinder gestorben, und jeder dieser Fälle ist tragisch. Aber weil diese Einzelfälle gut dokumentiert sind, wissen wir, dass es fast immer schwerwiegende Vorerkrankungen gab.
In einem Beitrag des ZDF hieß es kürzlich, ein Vater habe sein 3-jähriges Kind impfen lassen, weil er denkt, dass Corona bei Kindern Wachstumsstörungen verursachen kann.
Davon habe ich noch nie etwas gehört. Wenn es dazu Daten gäbe, müsste ich es wissen.
Es gibt außerdem die Befürchtung, dass Long Covid bei Kindern unterschätzt wird.
Leider ist die Datenlage in dieser Hinsicht nach wie vor nicht gut. Es gibt eine neuere Studie aus Krankenkassendaten, die Hinweise gibt, inwiefern Long Covid bei Kindern möglich ist. Die Studie ist allerdings methodisch nicht geeignet, abschließende Aussagen zu treffen.
Ist inzwischen bekannt, ob eine Impfung vor Long Covid schützen kann?
Bei dem Teil der Geimpften, bei dem durch Impfung die Infektion mit Sars-CoV-2 verhindert wird, kommt es auch zum Schutz vor möglichen Spätfolgen der Infektion. Inwieweit es nach Durchbruchsinfektionen und Durchbruchserkrankungen auch zu Long Covid kommen kann, ist meines Wissens nach noch nicht klar.
Was raten Sie Eltern nicht vorerkrankter Kinder, die jetzt verunsichert sind und ihre Kinder lieber schon impfen lassen würden?
Ich würde auf eine evidenzbasierte Empfehlung warten.
Auch wenn zum Beispiel in den USA längst Kinder unter 12 Jahren geimpft werden?
In den Vereinigten Staaten ist die Covid-19-Krankheitslast bei Kindern höher als bei uns in Deutschland. Das liegt wahrscheinlich an der unterschiedlichen allgemeinen Gesundheitsversorgung der Kinder. Es gäbe demnach mehr Kinder mit Vorerkrankungen. Das beeinflusst die Bewertung der Impfnotwendigkeit. Gerade die Entscheidung zur Impfung der Kinder sollte auf einer sicheren Datenbasis erfolgen.
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