: „Wir bräuchten einen Wumms“
Die Ampel-Verhandler wollen die Zuwanderung in den deutschen Arbeitsmarkt neu steuern, auch mit einem Punktesystem. Es brauche eigentlich einen Systemwechsel, sagt Experte Herbert Brücker. Zentral sei, ausländische Abschlüsse leichter anzuerkennen
Interview Jasmin Kalarickal
taz: Herr Brücker, laut Sondierungspapier der Ampel-Parteien soll das Fachkräfteeinwanderungsgesetz praktikabler gemacht werden. Es zielt auf qualifizierte Zuwanderung aus Nicht-EU-Ländern ab. Wo hapert es derzeit?
Herbert Brücker: Vor der Pandemie haben gut 60.000 Menschen pro Jahr die Regelungen für die Erwerbsmigration in Anspruch genommen, seither haben sich die Zahlen halbiert. Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz lässt die Einwanderung von Arbeitskräften mit akademischen und beruflichen Abschlüssen grundsätzlich zu. Aber: Die Abschlüsse müssen in der Regel bereits vor dem Zuzug als gleichwertig anerkannt werden. Das ist im gegenwärtigen System nach meiner Einschätzung die größte Hürde für die Einwanderung. Dieses Verfahren dauert lange und ist sehr aufwendig.
Warum ist das so kompliziert?
Das deutsche Bildungs- und Ausbildungssystem ist weltweit nahezu einmalig und die meisten Menschen im Ausland, gerade mit mittleren beruflichen Abschlüssen, haben keine vergleichbaren Zertifikate. Die meisten scheitern deshalb an unserer Gleichwertigskeitsprüfung.
Und Sie glauben, eine Ampelkoalition würde das verändern?
Das liegt nahe. FDP und Grüne haben in der letzten Legislaturperiode Gesetzesentwürfe eingebracht. Beide Parteien wollten prüfen, ob man auf die Gleichwertigkeitsprüfung weitgehend verzichten oder die Hürden senken kann. Das wird der entscheidende Punkt bei den Koalitionsverhandlungen.
Fänden Sie das gut?
Es ist vernünftig, den deutschen Arbeitsmarkt für alle zu öffnen, die ein bestimmtes Qualifikationsniveau erreichen und die ein verbindliches Arbeitsangebot haben. Letztlich entscheidet der Arbeitsmarkt, ob es für diese Arbeitskräfte einen Bedarf gibt oder nicht. Darum ist es ausreichend, wenn die Menschen nach den Regeln ihrer Länder studiert oder eine Berufsausbildung gemacht haben. Sie müssen nicht unbedingt die gesamte Ausbildungsordnung einer deutschen Handwerkskammer erfüllen. Es gibt Einwanderungsländer, die einfach schauen, ob Menschen berufliche Abschlüsse mit seriösen Zertifikaten und eine Mindestausbildungs- oder Studiendauer vorweisen können. Sie prüfen aber nicht, ob die exakt vergleichbar sind mit denen, die man im eigenen Land hat.
Warum ist das ein so umstrittener Punkt?
Zum einen, weil viele Unternehmensverbände oder Gewerkschaften Angst vor Wettbewerb haben. Zum anderen ist es schwierig, wenn Berufe nicht als gleichwertig anerkannt sind, sie in das Tarifsystem einzuordnen – oder sie landen automatisch unten im Tarifsystem. Das ist nicht im Sinne von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden. Es braucht also unter Umständen Anpassungen in der Tarifpolitik, das sind schwierige Fragen. Aber man muss sich auch von der Vorstellung verabschieden, dass Menschen, die zu uns kommen, genauso sind wie die anderen Arbeitskräfte, die wir schon in Deutschland haben.
Wie meinen Sie das?
Menschen, die zu uns kommen, bringen unter Umständen andere Qualifikationen mit als die, die wir schon kennen. Das ist nichts Schlimmes. Mit Migration entstehen viele wirtschaftliche Innovationen. Die Kunst ist, dass ich das vernünftig miteinander verbinde. Dass am Ende nicht eine Gruppe in Lieferdiensten arbeitet und ausgebeutet wird und die andere bekommt die Pizza geliefert.
Einwanderer:innen arbeiten aber oft in prekären Bereichen, die für viele Arbeitskräfte hier nicht attraktiv sind – etwa bei der Spargelernte oder in der Fleischproduktion. Welche Folgen hätte ein Mindestlohn von 12 Euro?
Mindestlöhne wirken ambivalent auf Migration und Beschäftigung: Zum einen steigen mit einem höheren Einkommensniveau die Anreize für Migration, Deutschland wird attraktiver als Standort. Solange der Bauer bei der Spargelernte Gewinne macht, stellt er auch Leute ein. Das Arbeitsangebot wird steigen, das heißt, man kann dieser Lohnungleichheit, die durch Migration durchaus zunimmt, praktisch entgegenwirken. Auf der anderen Seite: Steigende Löhne senken die Unternehmensgewinne und dämpfen die Arbeitsnachfrage. Gerade im Niedriglohnbereich kann es auch dazu führen, dass die Einstellungsquote sinkt und es folglich zu weniger Migration kommt.
Es gibt in dem Sondierungspapier eine Neuerung: Als zweite Säule soll ein Punktesystem eingeführt werden. Kanada hat 1967 als erstes Land ein solches eingeführt. Für viele gilt es als Vorzeigeeinwanderungsland. Was heißt das jetzt für Deutschland?
Das kann ich noch nicht einschätzen. Ich vermute, man will das Punktesystem nur für Menschen einführen, die zur Arbeitssuche hierherkommen, aber keinen generellen Systemwechsel einleiten.
Die Arbeitssuche ist doch auch mit dem bestehenden Fachkräfteeinwanderungsgesetz möglich.
Ja, aber man braucht ausreichende Existenzmittel und muss Deutsch sprechen können. Das macht nahezu niemand. Die meisten Menschen, die eine Arbeit suchen, reisen mit dem Touristenvisum hier ein, um das zu umgehen. Die Idee von FDP und Grünen ist, die Möglichkeiten zu erweitern und dafür ein Punktesystem einzuführen. Dann gäbe es etwa Punkte für Sprachkenntnisse, für die berufliche Ausbildung oder das Alter, und dann kann man hier zur Arbeitssuche einreisen. Und wahrscheinlich wird man dann, wenn man einen Job hat, auch einfach arbeiten können. Das ist zumindest die Idee.
Worin unterscheidet sich ein Punktesystem genau?
Unser jetziges System wird über Mindestkriterien gesteuert. Wir sagen, wir brauchen einen Hochschul- oder Berufsabschluss, die Anerkennung dieser Abschlüsse, wir brauchen Verdienste und Arbeitsbedingungen, wie sie in den jeweiligen Branchen und Regionen üblich sind – und im Falle der Blauen Karte EU noch ein vergleichsweise hohes Mindestgehalt. Ein solches System wirkt restriktiv, weil nur wenige alle Kriterien gleichzeitig erfüllen können. In Kanada gibt es viel mehr Kriterien, aber man muss sie nicht alle erfüllen. Wenn man zwei Drittel der maximalen Punkte erreicht, darf man einwandern und sich eine Arbeit suchen.
Herbert Brücker ist seit 2005 Leiter des Forschungsbereichs „Migration, Integration und internationale Arbeitsmarktforschung“ am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung und seit 2018 Professor für Volkswirtschaftslehre an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Zusammengedacht heißt das: Wir schrauben 2021 am Fachkräfteeinwanderungsgesetz rum und nehmen noch ein zweites System dazu? Ergibt das Sinn?
Die beiden Systeme sind tatsächlich logisch nicht völlig kompatibel.
Sie sind skeptisch, ob das Punktesystem etwas bringt?
Es ist für mich ein Fragezeichen. Die Grundfrage ist, ob wir im Prinzip den bisherigen Weg weitergehen oder einen Systemwechsel machen. Man kann auch bei einem Punktesystem die Voraussetzungen so hoch setzen, dass am Ende nur jemand im Vollkaskomodell kommen kann, wo es nur einen kleinen Spielraum beim Alter oder beim familiären Status gibt. Es gibt in der deutschen Politik so eine Art Sicherheitsdenken. Zudem müssen die Kriterien überprüft werden, das könnte bei uns noch länger dauern als in Kanada oder Australien mit völlig anderen Rechtstraditionen.
Wie viel Einwanderung bräuchte Deutschland?
Wir bräuchten eine Nettoeinwanderung von etwa 400.000 Arbeitskräften pro Jahr, um das Erwerbspersonenpotenzial hier konstant zu halten. Aber das reicht eigentlich nicht: Der Altersquotient, also das Verhältnis der Rentner zu Erwerbstätigen, würde auch dann noch bis 2060 um 15 bis 20 Prozentpunkte wegen der steigenden Lebenserwartung steigen. Wir brauchen im Prinzip keine inkrementelle Reform, also ein paar Neuregelungen im Detail, sondern es müsste etwas werden, was einen Wumms auslöst.
Und was macht Wumms?
Ich denke, die Veränderung des Systems der Anerkennung von beruflichen Abschlüssen ist der zentrale Hebel. Wenn wir ausländische Abschlüsse akzeptieren, wie sie sind, und das mit einer Arbeitsplatzzusage kombinieren, können wir den notwendigen Umfang der Einwanderung und stabile und qualitativ gute Beschäftigungsverhältnisse erreichen. Wir wissen aus der empirischen Forschung, dass Menschen, die mit einer Arbeitsplatzzusage kommen, auch fünf Jahre später noch ziemlich gut im Arbeitsmarkt performen. Die Entlassungen oder Beschäftigungsrisiken sind geringer als im Bevölkerungsdurchschnitt.
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