Wiederentdeckung von Solomon Nikritin: Sich als Kaktus ausprobieren
In Dessau werden die Theaterkonzepte des proletarisch orientierten Künstlers Solomon Nikritin vorgestellt. Es gibt Parallelen zur Gegenwart.
Dessau liegt nicht am Meer. Die Arbeit der Wellen kann dort im Museum der Bauhausstiftung aber dennoch geübt werden: Eine Schüssel mit grobkörnigem Sand steht bereit, dazu ein Sieb und eine größere Schüssel, in die der Sand gesiebt werden kann. Nur die feinsten Partikel und die kleinsten der Körner kommen nach intensivem Ruckeln durch. Strandsandsieben ist Arbeit. Bald ist der Arm lahm, der Strand gerade groß genug für eine Ameisenkleinfamilie.
Diese Handlungsanordnung ist Teil der poetisch-philosophischen „Skipónic Vignetten“ von Ilya Dolgov. Der in Russland arbeitende Künstler stellt kaum im staatlich-institutionellen Kontext aus, nun aber gehören seine partizipativen Installationen zum Themenschwerpunkt „Xist*innen: ein Metabolistisches Labor nach Solomon Nikritin“, einem noch dieses Wochenende laufenden Programm mit Performances, Filmen und Installationen rund um die Idee von Nikritins Entwurf eines Projektionistischen Theaters.
Dessen Wiederentdeckung, die das Bauhaus Dessau für sich beanspruchen kann, bietet eine spannende kunsthistorische Referenz: Sie eröffnet den Blick auf ein lebensnäheres Pendant zu den in der Weimarer Republik an der Bauhausbühne entwickelten, weitgehend sperrigen Tanz- und Theaterversuchen.
Genau wie diese vor 100 Jahren entstanden, hat das Projektionistische Theater den erst um die letzte Jahrtausendwende vollzogenen „performative turn“ der Darstellenden Künste vorweggedacht. Damals wie heute ist, im konsumkritischen Sinn, der Prozess interessanter als das fertige Produkt.
Solomon Nikritin (1898–1965) hat ein Jahr lang bei Wassily Kandinsky studiert und wurde bislang am ehesten als Maler wahrgenommen. Sein Werk wird größtenteils von den Sammlungen der Staatlichen Tretjakow-Galerie in Moskau sowie des Museums für Zeitgenössische Kunst im griechischen Thessaloniki verwaltet. Seine für den Ausstellungskontext entwickelten Theaterideen sind dagegen ausschließlich in russischen Archiven zugänglich.
Zum Material werden
Die Kuratoren Torsten Blume und Mikhail Lylov haben sie für das Dessauer Programm übersetzt und ausgewertet. Wie die meisten der Avantgardebewegungen vom Anfang des 20. Jahrhunderts hat das Projektionistische Theater eine stark utopische Ausrichtung. Sein Material ist nicht der Text, sondern der menschliche Körper. Dieser soll durch das Verüben und Erüben von Gewohnheiten und Wahrnehmungen das Potenzial für mögliche Zukünfte liefern. Dabei gehe es jedoch, wie Torsten Blume zur Eröffnung sagt, nicht um das bürgerliche Ideal der Selbstverwirklichung, sondern vielmehr um eine Selbstwahrnehmung als „Material unter anderen Materialien“.
Im Ausstellungstext schreibt er: „Das Projekt Xist*innen fragt in diesem Sinne danach, ob und inwieweit wir uns, ähnlich wie die Projektionist*innen der 1920er Jahre, als Konzeptpersonen ausprobieren können, die sich darin üben, ein Vorstellungshandeln für eine neue Verbundenheit und einen neuen Metabolismus der Koexistenz zu entwickeln, zum Beispiel als Sukkulentist*innen, Insektist*innen, Sphereist*innen, Imaginist*innen oder Nichtwachstumist*innen.“
Eines der auf diesen Ideen aufbauenden Übungsfelder stammt in Dessau von der Künstlerin Anastasiya Kizlova. Ihre für Sukkulentist*innen, das heißt am Lebensprinzip von Kakteen Interessierte, entworfenen Schürzen und Überkleider („Succulent Therapy“) sind mit eingenähten Pads versehen, in denen das pflanzliche Wurzelwerk Halt finden kann. Getragen werden sollen die Kostüme bei Lesezirkeln, um so durch ausgestoßenes CO2 und Denkwärme einen Substanzaustausch mit den Mitbewohner:innen in der Kleidung zu ermöglichen.
Setzt Energie frei
Auf andere Art wird das Vorstellungsvermögen in der Installation „Follow me“ von Eugenia Suslova trainiert. Hier bekommen Xist*innen Anleitungen, um alles, was ihnen wichtig ist, in Icons zu visualisieren und auf den eigenen Zukunftsscreen zu projizieren sowie alles andere hinter sich zu lassen. „Erst eine Person, die den eigenen Körper und Geist (einschließlich der Emotionen) perfekt beherrscht“ – so zitiert der Text zur Ausstellung Nikritin –, „setzt ihre kreative Energie frei; um eine neue Gesellschaft zu bilden.“
Denn für eine Gesellschaft, in der es „keine Autorität, keine Vollstreckung, keine Gefängnisse, keine Strafen, keine Richter usw.“ mehr geben wird, „ist es notwendig, als biologischer Organismus vollkommene Selbstbeherrschung zu haben.“
Dieser Hypothese folgend sei es die theaterpädagogische Ambition der Projektionisten gewesen, „Phobien und Hass gegenüber anderen Körpern zu lokalisieren und zu überwinden und sozial-technologische Beziehungen neu zu gestalten“.
Gefahr der Vereinnahmung
Nikritins Konzepte waren einer ideologischen Vereinnahmung nicht gefahrlos ausgeliefert. Im Umfeld der breiten russischen Bewegung für „Proletarische Kultur“, die sich für eine Entprofessionalisierung der künstlerischen Tätigkeit nach der Oktoberrevolution einsetzte, wollte das Projektionistische Theater jedem Menschen die Freude an der Gestaltung des eigenen Lebens zugänglich machen. Da zur Lebensgestaltung aber auch die Arbeit gehört, und Arbeitsabläufe in ihrer Effizienz durchorganisiert und klassifiziert werden können, wurde Nikritins Theater 1923 ins Institut für Arbeitsforschung eingegliedert.
Zum Instrument leninistisch-marxistischer Politik wurde es dennoch nicht – was mit an seinem philosophischen und experimentellen Ansatz gelegen haben könnte. Durch die Abwesenheit von narrativem Text und seinen Charakter als Versuchsanordnung – für die Akteure genauso wie für die Wahrnehmenden – war es kein Slogantheater. Vielmehr schien es nach Organisationsstrukturen eines Miteinanders im Begegnungsraum von Aktion und Kontemplation zu suchen.
Der Kurator Mikhail Lylov, der mit Studierenden zur Eröffnung ein Stimmkonzert vorführte, interpretiert in heutiger Terminologie: „Für mich geht es darum, von einer Dominanz der Macht des Handelns, eines ableism, wegzukommen; hin zu einer Ermächtigung des Wahrnehmens. Daher ist Improvisation im Sinn einer Resonanzerfahrung ein wichtiges Mittel dieses Theaterbegriffs.“
Durchsetzen konnte er sich nicht. Solomon Nikritin hat das Experiment in seiner zweiten Lebenshälfte ruhen lassen und im Wohnzimmer der durch seine Frau finanzierten Wohnung figurative Gemälde produziert. Seine Ideen aber sind im Spiegel der Ideenkunst eines Joseph Beuys oder zeitgenössischer Performancekunst wie Tino Sehgals weltberühmter „Situations“ heute umso spannender.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um Termin für Bundestagswahl
Vor März wird das nichts
Bewertung aus dem Bundesinnenministerium
Auch Hamas-Dreiecke nun verboten
SPD nach Ampel-Aus
It’s soziale Sicherheit, stupid
Wirbel um Berichterstattung in Amsterdam
Medien zeigen falsches Hetz-Video
Energiepläne der Union
Der die Windräder abbauen will
Einigung zwischen Union und SPD
Vorgezogene Neuwahlen am 23. Februar