Prozess gegen Flüchtlingsaktivist:innen: Auf die Hilfe droht die Haft
In Griechenland stehen ab Donnerstag 24 Flüchtlingshelfer:innen vor Gericht. Darunter sind der Ire Seán Binder sowie die Syrerin Sarah Mardini.
Berlin taz | Er hätte auch einfach wegbleiben können. Aber Seán Binder will sich nicht verstecken. Am Sonntag flog der ehemalige Rettungsschwimmer von London nach Athen, wenn es schlecht läuft, darf er Griechenland erst in einigen Jahren wieder verlassen. Binder ist einer von 24 Flüchtlingshelfer:innen, denen ab Donnerstag in Mytilini auf Lesbos der Prozess gemacht wird. Es geht um lange zurückliegende Solidaritätsaktionen, ihnen droht teils jahrzehntelange Haft.
„Wir erwarten einfach, dass die Behörden ihre eigenen Gesetze einhalten – die Pflicht zur Rettung, den Grundsatz der Nichtzurückweisung, das Recht, Asyl zu beantragen“, schrieb Binder vor dem Verhandlungsbeginn auf Twitter.
Der heute 27-jährige Ire hatte sich 2017 als Freiwilliger der griechischen NGO International Emergency Response Centre angeschlossen. Er hatte vor der griechischen Insel Lesbos nach Booten in Seenot Ausschau gehalten, um sich um mögliche Schiffbrüchige zu kümmern. Zu jener Zeit ertranken in dem Seegebiet Hunderte Menschen bei der Überfahrt aus der Türkei.
2018 wird Binder zusammen mit 23 anderen Aktivist:innen, darunter die syrische Leistungsschwimmerin Sarah Mardini, verhaftet. Die Justiz warf ihnen unter anderem Spionage, Menschenhandel und die Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation vor. Nach mehr als drei Monaten in Untersuchungshaft werden Binder und Mardini am 5. Dezember 2018 gegen Kaution freigelassen.
Justiz hält am Spionage-Vorwurf fest
Die Justiz hält weiter an den Vorwürfen Spionage, Schlepperei und Mitgliedschaft in einem kriminellen Netzwerk fest. Kürzlich entschied die Staatsanwalt in Lesbos, einen Teil der Anklagepunkte – darunter „unrechtmäßige Nutzung von Funkfrequenzen“ – in einem eigenen Verfahren vorzuziehen. Für diese Anklagepunkte allein droht Binder eine Haftstrafe von bis zu fünf Jahren. Die Mitangeklagte Mardini ist mit einer Einreisesperre belegt – gegen sie wird am Donnerstag in Abwesenheit verhandelt.
Es handele sich um eine „ungerechte und unbegründete Strafverfolgung, bei der ihnen sehr schwere Vorwürfe gemacht werden, die im Falle eines Schuldspruchs zu 25 Jahren Gefängnis führen können“, schreibt die Menschenrechtsorganisation Amnesty International zu dem Fall. Die Haltung des Staates gegenüber Seán Binder unter den Regierungen von Syriza und der Nea Dimokratia „verleumdet Griechenland international“, sagte Ex-Finanzminister Yannis Varoufakis.
Derweil präsentierten die NGO Oxfam und der griechische Flüchtlingsrat eine Studie, die zeigt, dass nicht nur Helfer:innen, sondern auch Geflüchtete in Griechenland immer länger im Gefängnis bleiben. Seit 2019 dürfen Asylbewerber*innen auch zwecks Überprüfung ihrer Identität für bis zu drei Jahre inhaftiert werden, Alternativen zur Haft müssen nicht mehr geprüft werden. Im Juni 2021 waren in Griechenland rund 3.000 Migrant:innen inhaftiert, dies werde zum „De-facto-Standard“, so Oxfam. Sieben von zehn Migrant:innen ohne regulären Aufenthaltstitel – darunter Schwangere und Kinder – würden in Verwaltungshaft genommen und blieben auch dann inhaftiert, wenn sie einen Asylantrag stellen. Jede:r fünfte Inhaftierte werde länger in Polizeizellen festgehalten, wo sie eigentlich nur wenige Stunden bleiben sollten.
46 Prozent der inhaftierten Migrant:innen bleiben mehr als sechs Monate in Verwaltungshaft. „Die Verwaltungshaft soll Menschen davon abhalten, in Europa Schutz zu suchen. Deshalb wird sie zur Regel gemacht, statt eine Ausnahme zu bleiben,“ sagt Vasilis Papastergiou vom Griechischen Flüchtlingsrat. Das sei „moralisch untragbar“ und ein Rechtsverstoß.
Leser*innenkommentare
tomás zerolo
Furchtbar. Die EU macht grossen Wind, wenn die einen Menschenrechte verletzen, schaut weg, wenn's andere tun. Nein, sie schaut nicht weg, sie fördert es auch noch. Sie erzwingt das geradezu. In Griechenland, Polen, Italien, Spanien.
Wie verlogen sind wir denn?
Und oh, @STROLCH: sich hinter formaljuristischen klein-klein zu verstecken, um Menschenrechtsverletzungen zu rechtfertigen: das ist Markenzeichen unmenschlicher Autokratien und Diktaturen. Das sollten Sie wissen.
Kaum fünfunddreissig Jahre später [1] kann man sich dann "nicht erinnern".
Ich hoffe ja inständig, das einige derer, die hier involviert sind noch zu Lebzeiten vor Gericht kommen, so wie heute manche vor dem Internationalen Gerichtshof erscheinen müssen.
[1] de.wikipedia.org/wiki/Filbinger
Strolch
@tomás zerolo Kapiere Ihren Einwand nicht. Ich finde für mich keine brauchbaren Informationen in dem Artikel. Bei Frau Rackete (hoffe, ich habe den Namen richtig geschrieben) wurde genau berichtet, da konnte man sich ein Bild von der ausweglosen Situation machen, in der sich das Schiff befand.
Strolch
Liebe Taz! Auf Diebstahl steht fünf Jahre Haft. Wenn ihr also berichtet, dass jemand wegen Diebstahl angeklagt ist und darauf fünf Jahre Haft stehen, ist dies zweifellos richtig. Nur leider ist der nutzen diese Information überschaubar, wenn nicht gleichzeitig mitgeteilt wird, ob jemand einen Schokoriegel geklaut hat oder 100.000 € aus einer Kasse entwendet hat. Wenn dann noch mitgeteilt wird, dass er der jenige, der die 100.000 € entwendet hat, damit erpresst wurde, dass andernfalls seine Kinder getötet werden, wird die Sache richtig interessant.
Was bedeutet diese für den Artikel? Spannender wäre es, mitzuteilen, was tatsächlich geschehen ist. Dies einmal geschildert aus der Sicht der Anklagebehörde und zum anderen aus der Sicht des Angeklagten. Im Hinblick auf die unerlaubte Nutzung der Funkfrequenzen wäre zum Beispiel interessant zu wissen, ob diese 5 Minuten genutzt, 5 Stunden oder fünf Tage. In Letzterem Fall hätte ich Verständnis für die Anklage, wenn es sich zum Beispiel um Funkfrequenzen gehandelt hat, die für Notrufe freigehalten werden müssen. Wenn es sich hingegen um eine Funkspruch von 15 Minuten handelt, da die Frequenz verwechselt wurde, sehe die Sache wieder anders aus .
Mir wäre ein Artikel lieber, in denen berichtet wird, was geschehen ist als irgendwelche Haftstrafen wieder zu geben, die einen Extremfall abbilden.
Obscuritas
@Strolch Die konkreten Umstände und Vorwürfe sind aber nur Nebensache.
Angeklagt sind 24Menschen weil Sie Menschleben gerettet haben von Menschen, die man ertrinken lassen wollte.
Was man den Menschen vorwirft? Alles was möglich ist. Das ändert aber nichts am eigentlichen Grund für den Prozess. Sowas nennt man auch "Scheinprozess".
Hier ein historisches Beispiel zur besseren Einordnung des Geschehens:
Ein Schweizer Polizist hat auch seinen Job verloren und ist erst viele Jahre nach Ende des 3ten Reiches rehabilitiert worden, weil er jüdischen Flüchtlingen über die Grenze geholfen hat. Ist es wirklich wichtig was die konkreten Vorwürfe waren?
Er hat den Job verloren weil er Menschen gerettet hat, die sein Land lieber sterben lassen wollte.
Wiedergutmachung gab es übrigens keine.
"Das Boot ist voll" den Spruch haben die Schweizer erfunden.