Kriegsverbrechen in Äthiopien: Der Krieg um den Krieg
Ein Bericht der UN-Menschenrechtskommission geht Verbrechen in der Kriegsregion Tigray nach. Über sein Zustandekommen wird heftig gestritten.
Als UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet am Mittwoch in Genf vor die Presse trat, war sie bestrebt, ihre Unabhängigkeit zu betonen. Es ging um ihren Untersuchungsbericht zu Verbrechen in Äthiopien seit dem Beginn des Krieges um die Region Tigray im November 2020.
„Die Regierung hat uns nicht unter Druck gesetzt“, antwortete sie auf die Frage, ob Äthiopiens Regierung – eine Kriegspartei – die Untersuchung beeinflusst habe. Man habe im Bericht zwar „nicht ausdrücklich gesagt, dass äthiopische Streitkräfte für die Mehrheit der Übergriffe verantwortlich waren, aber es scheint, als sei das tatsächlich der Fall“, so die Chilenin weiter, und: „Wir sind zuversichtlich, dass das Team eine erhebliche Menge an Informationen zusammengetragen hat.“
Schon während dieser Pressekonferenz hagelte es kritische Nachfragen, nun werden die Zweifel am Bericht, den die Seite Tigrays als ungenügend ablehnt, immer konkreter. Der Vorwurf: Die Vereinten Nationen hätten sich von Äthiopiens Regierung an der Nase herumführen lassen. Ein schwerwiegender Vorwurf, denn dieser Bericht stellt jetzt auf diplomatischer Ebene die Referenzquelle für Verbrechen im Tigray-Krieg dar. Was hier steht, ist offiziell anerkannt; was nicht drinsteht, nicht.
Durchgeführt wurde die Untersuchung nicht von der UN allein, sondern von einem gemeinsamen Team der UN-Menschenrechtskommission (OHCHR) und der Äthiopischen Menschenrechtskommission (EHRC). Die EHRC ist formell ein unabhängiges Gremium, wird aber vom äthiopischen Parlament ernannt – in dem nur Parteigänger der Regierung sitzen – und staatlich finanziert.
Amnesty fordert Reform der EHRC
Die EHRC „dient den Interessen der äthiopischen Regierung“, kritisiert in einer Stellungnahme der Tigray-Wissenschaftlerverband GSTS und verweist auf öffentliche Äußerungen des EHRC-Chefs Daniel Bekele zugunsten des militärischen Vorgehens der Regierung. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International forderte schon 2019 eine grundlegende Reform der EHRC, da diese „außerhalb etablierter Standards und Menschenrechtsrahmen arbeitet, was Zweifel über ihre Methoden und Befunde aufwirft“.
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Die Untersuchung zu Tigray geht auf eine Bitte um Zusammenarbeit zurück, die der EHRC am 10. März 2021 an die UN richtete. Das OHCHR akzeptierte sie zwei Tage später. Ein „Joint Investigation Team“ aus 39 Menschen entstand, mit einer Doppelspitze und je sechs Ermittlern von EHCR und OHCHR, dazu kommen Reservekräfte und Experten für Fachgebiete wie Forensik oder Gender sowie acht Dolmetscher.
Einer der Dolmetscher war anfangs der lokale Journalist Michael Minassie. Der ehemalige TV-Moderator in Tigrays Regionalfernsehen – mit Medienerfahrung bei den UN-Blauhelmmissionen in Äthiopien und Südsudan – war nach der Einnahme von Tigrays Hauptstadt Mekelle durch die äthiopische Armee am 28. November 2020 abgetaucht. Minassie stand im Verdacht, mutmaßlicher Sympathisant der Tigray-Machthaber zu sein, die jetzt als Rebellen weiter kämpfen. Schließlich bewarb er sich für einen Dolmetscherposten bei der Menschenrechtsuntersuchung in Tigray. Am 17. Mai 2021 nahm er seine Arbeit auf. Zehn Tage später wurde er wieder entlassen, sagt er.
„Die UN sagte mir, die Teamleiterin habe meine Interviews als Journalist mit Offiziellen der Tigray-Regionalregierung ausgegraben“, erzählt Minassie, der heute als Asylbewerber in Deutschland lebt, der taz. „Sie sagte mir, ich könne nicht unparteiisch sein.“ Er und ein anderer Übersetzer aus Tigray verloren ihre Jobs. Die UN-Kommission habe alle Mitarbeiter tigrayischen Ursprungs auf Wunsch der EHRC gefeuert, heißt es in der Stellungnahme der Tigray-Wissenschaftler.
Minassie: „EHRC fokussierte sich auf Nebensachen“
Minassie berichtet von seinen Einblicken in die Arbeitsmethoden der Menschenrechtsuntersuchung, die damals Kriegsflüchtlinge in Vertriebenenlagern in Mekelle besuchte: „Die Ermittler von UN und EHRC gingen gemeinsam ins Feld: je einer, dazu ein Übersetzer“, berichtet er. „Manchmal wurden sie von Sicherheitskräften in ziviler Kleidung begleitet.“ So konnten die Interviewpartner nicht frei reden, schätzt er.
Er gibt wieder, was ihm Lagerleiter erzählten, die er nach ihrem Termin mit dem Team selbst befragte: „Es war wie ein Polizeiverhör. Sie versuchten, Antworten vorwegzunehmen. Die UN versuchte, sich auf ihr Mandat zu konzentrieren, Menschenrechtsverletzungen wie außergerichtliche Hinrichtungen oder Gruppenvergewaltigungen, so was. Die EHRC aber fokussierte Nebensachen wie das Management von Vertriebenenlagern. Sie wollten die Aufmerksamkeit ablenken.“
Von vierzig Orten, die das Team laut Mandat besuchen sollte, habe es nur zwölf tatsächlich aufsuchen können. Wichtige Orte von Massakern blieben außen vor, wie der Bericht bestätigt. Es wurden nur Menschen in Gebieten unter äthiopischer Regierungskontrolle befragt – keine Tigray-Flüchtlinge in Sudan, keine Tigray-Binnenvertriebenen. Auch ein angefragtes Treffen mit den Tigray-Rebellen kam wegen der Präsenz der EHRC nicht zustande.
Der Bericht führt aus, die äthiopischen Behörden hätten Reisegenehmigungen verweigert und sichere Satellitentelefone nicht freigegeben. Ende September 2021 warf Äthiopiens Regierung sogar den Monitoring-Leiter des OHCHR-Büros in Addis Abeba, Sonny Onyegbula, wegen „Einmischung in innere Angelegenheiten“ aus dem Land. Er war damit beschäftigt, den Untersuchungsbericht zu schreiben.
Redet die UN-Untersuchung Verbrechen klein?
Der Bericht listet dennoch zahlreiche Verbrechen durch Regierungsstreitkräfte auf. Doch Kritiker verweisen auf Unstimmigkeiten. „Das gemeinsame Team reiste nach Humera, wo Recherchen von CNN und des Telegraph improvisierte Haftanstalten für Tausende, Folter und brutale Tötungen aufdeckten. Es ist schockierend, dass die Untersuchung das weglässt“, schreibt auf Twitter der Al-Jazeera-Journalist Zecharias Zelalem.
Humera wurde von Eritreas Armee beschossen, als diese im Bündnis mit Äthiopiens Armee gegen die Tigray-Rebellen kämpfte. Besonders untertrieben findet Zelalem den Befund, der Krieg habe Tigrays Gesundheitssektor „erheblich in Mitleidenschaft gezogen“. Er merkt an: „Laut Ärzte ohne Grenzen waren bis März nur 13 Prozent aller Gesundheitseinrichtungen in Tigray nicht zerstört oder von Soldaten besetzt.“
Redet die UN-Untersuchung Verbrechen klein? Äthiopiens Regierung zeigte sich nach der Veröffentlichung zufrieden und behauptete, der Bericht habe den Vorwurf des Völkermordes an Tigrayern entkräftet. Michelle Bachelet wies in ihrer Reaktion darauf hin, dass dies aber gar nicht das Thema gewesen sei: „Intention und Ausmaß ethnischer Verbrechen“ müssten erst noch untersucht werden. Mit anderen Worten: Die heikelsten Fragen bleiben unbeantwortet.
„Ich war Zeuge dieser Greueltaten in den Bergen, wo ich zwei Monate verbrachte: Drohnenangriffe; zielloser Artilleriebeschuss; Menschen, die von Klippen geworfen werden“, sagt Michael Minassie, „Es ist ein sehr kontroverses Thema, aber ich glaube, dass in Tigray Völkermord verübt wurde.“
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