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Folter in Russland„Hölle auf Erden“

Eine Gefangenenrechtsgruppe veröffentlicht Videos über brutale Misshandlungen in russischen Strafanstalten. Beschuldigte wurden entlassen.

Einer der Orte der Folterungen: Das Tuberkulose-Krankenhauses im russischen Saratow Foto: Filipp Kochetkov/reuters

Moskau taz | Moskau reagierte ungewöhnlich schnell. Anfang der Woche kursierten Veröffentlichungen von Videos mit mutmaßlichen Vergewaltigungen von Gefängnisinsassen im Netz. Bereits am Mittwoch wurden mehrere Beschuldigte vom Chef des russischen Strafvollzugs (FSIN) entlassen. Darunter war auch der Leiter des Tuberkulose-Krankenhauses in Saratow – einer der Orte, wo es regelmäßig zu Folterungen von Häftlingen gekommen sein soll. Mehrere Angestellte der Haftanstalt und der Vorsitzende des Strafvollzugsdienstes in der Region mussten den Dienst quittieren. Strafverfahren wurden eingeleitet.

Folter und Misshandlungen gehören zum Alltag vieler Häftlinge in Russland. Die russischen Straflager haben den Ruf, eine „Hölle auf Erden“ zu sein.

Folterungen und Demütigungen sind keine Neuigkeit. Alle paar Jahre gelangen immer wieder spektakuläre Fälle auch an die Öffentlichkeit. Die Gefangenenrechtsgruppe Gulagu.net stellte Anfang der Woche mehrere Videos ins Netz. Eines der Opfer wurde mit einem Besenstiel vergewaltigt und schrie vor Schmerzen.

Der Gründer der Gruppe ist Wladimir Ossetschkin, der seit Jahren im Ausland lebt. Ihm wurde Archivmaterial zugespielt. Bislang veröffentlichte die Gruppe nur einen Bruchteil des 40-Gigabyte-Archivs. Insgesamt läge der Gruppe aber Foltermaterial von 70 Gigabyte vor, sagte Ossetschkin gegenüber dem Sender Echo Moskau. Die Videos soll ein ehemaliger Mitarbeiter der Strafvollzugsbehörde, selbst ein ehemaliger Häftling, aus der Kolonie herausgeschmuggelt haben.

Arbeit als Spitzel

Das Beweismaterial ist so erdrückend, dass Moskau auf den „systematischen Charakter von Folter“ reagieren musste. Im russischen Strafvollzug gebe es ein überregional organisiertes Foltersystem. Dazu gehöre auch Saratow, wo das Besenstiel-Video im Winter 2020 entstand. Gebiete, wo es zu ständigen Misshandlungen kommt, stellen auch Irkutsk, die Baikalregion, Kransnojarsk und Wladimir dar, meint Ossetschkin.

Folter gehört zum Alltag vieler Häftlinge in Russland. Die Straflager haben den Ruf, eine Hölle auf Erden zu sein

Wer nicht gefügig sei, werde oft in Strafkolonien verlegt, wo grausame Folter zum Alltag gehört. Manche Häftlinge sollen als Spitzel arbeiten, bei anderen wird erwartet, dass sie Mitgefangene durch Falschaussagen belasten.

Besonders gewaltbereite Häftlinge arbeiten mit der Strafvollzugsbehörde FSIN zusammen. Die FSIN rekrutiert sogenannte Sonderkommandos, die die Aufgabe haben, Gefängnisinsassen zu foltern. Dabei kommen auch besonders gewaltbereite Mitgefangene zum „Einsatz“.

Grundsätzlich müssen alle Einzelheiten des körperlichen und sexuellen Missbrauchs auf Video aufgezeichnet werden. Die Aufnahmen werden anschließend im FSIN-System abgespeichert, um die Misshandelten erpressbar zu machen. Ossetschkin vermutet, dass die Aufnahmen im Auftrag des Inlandsgeheimdienstes FSB und des Strafvollzugs angefertigt wurden.

Schwerer Stand

Wer in russischen Haftanstalten vergewaltigt wurde, hat unter Mithäftlingen einen schweren Stand. Meist fällt er in die unterste Häftlingskategorie, die jeder Inhaftierte nach Belieben erniedrigen darf.

Der ehemalige Häftling, der das Material Gulagu.net zur Verfügung stellte und in der Haftanstalt als Programmierer eingesetzt wurde, ist dem russischen Geheimdienst nicht unbekannt. Er wurde bei der Ausreise von einem russischen Flughafen zunächst festgesetzt. Wegen vermeintlicher Spionage wurde ihm auch Haft angedroht. Dennoch ließ der Geheimdienst, der den Delinquenten seit Monaten überwachte, letztendlich ausreisen. Er soll sich jetzt an einem sicheren Ort „unter Palmen“ aufhalten, so Wladimir Ossetschkin.

Er kündigte überdies an, seine Menschenrechtsgruppe werde nach und nach weitere Videos aus Gefängnissen veröffentlichen, um auf den systematischen Missbrauch in russischen Gefängnissen aufmerksam zu machen.

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10 Kommentare

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  • Was man auf der Suche nach gulagu.net alles findet. Ein Buch aus 2010 ueber den Zustand der russischen Polizei im Allgemeinen. Wie eine Ueberregulierung das Gegenteil schafft. Das Verhaften Unschuldiger wird bestraft. Also macht man sie zu Schuldigen. Und so weiter. Auch das erinnert an Russland im 19. Jahrhundert. Als die Studenten nach Berlin geschickt wurden, um sie in die Lage zu versetzen, das rechtliche Chaos daheim zu entwirren. books.google.de/bo...Gulagu.net&f=false

  • Das ist eine passende Gelegenheit daran zu erinnern, das hierzulande auch immerhin 185 Menschen in behördlichem Gewahrsam zu Tode gekommen sind - leider allzuoft unter ungeklärten Umständen.



    Besonders prominent natürlich Oury Jalloh.



    (de.wikipedia.org/wiki/Oury_Jalloh)

    • 8G
      83379 (Profil gelöscht)
      @Bolzkopf:

      In welchem Zeitraum, woran sind die Leute zu Tode gekommen? Wie sind die Zahlen in vergleichbaren Ländern, höher oder niedriger? So ohne Kontext 185 in 20 Jahren klingt nicht soviel, in einem Jahr ziemlich viel. Und Zu Tode gekommen? Durch Fremdeinwirkung oder wird da jeder mitgezählt der halt Herzversagen hatte?

      • @83379 (Profil gelöscht):

        Als Einstieg möchte ich auf diesen Artikel verweisen: taz.de/Tod-im-Gewahrsam/!5630024/

        Dort finden sie reichlich Links zu weiterführenden Informationen.

    • @Bolzkopf:

      Könnten Sie bitte erläutern, warum sie den von Ihnen gezogen Vergleich passend finden? Das kann ich nämlich nicht nachvollziehen. Ich habe fast den Eindruck, Sie haben den Artikel gar nicht gelesen.

      • @Barbara Falk:

        Ups - Vergleich? Wo schreib ich das ?

  • „Das Beweismaterial ist so erdrückend, dass Moskau auf den „systematischen Charakter von Folter“ reagieren musste.“

    Moskau hat auf die aus dem Datenbestand bisher veröffentlichten Einzelfälle auf die übliche Weise reagiert: Ein paar Entlassungen und Beurlaubungen und Strafermittlungen gegen angebliche „schwarze Schafe“. Auf den „systematischen Charakter“ der Vorgänge hat es nicht reagiert, und das wird auch nicht passieren, dazu müsste dieses Regime sich ja selbst richten.

    Aktuell scheint der Kreml noch damit befasst zu sein, herauszufinden, wieviel und was tatsächlich geleakt wurde, die Leugnungsstrategie wird erst danach entworfen werden. Herr Ossetschkin sagt dazu: Ihr braucht nicht groß nachforschen, wir haben alles, was die FSIN hat – Filmaufnahmen, Bilder, Textdokumente.

    Nochmal, damit klar ist, worum es geht: Die, wie alles in Russland, zentralistisch organisierte Strafvollzugsbehörde FSIN betreibt in ihren Einrichtungen eine Folterindustrie, die für ihre Auftraggeber – einzelne Strafvollzugsanstalten, Geheimdienst, Staatsanwaltschaften, Polizei und sonstige „Klienten“ - „Auftragsfolterungen“ durchführt und diese, wie es sich für eine ordentliche Behörde gehört, dokumentiert und zu Rechenschaftszwecken archiviert.

    Das Wesen des Putinismus, zusammengefasst in ein paar Dutzend Gigabite.

    • @Barbara Falk:

      Putin oder nicht, Cinema for Peace ("Bill Gates war es"), nach Donath hat die Folter ja einen "vernuenftigen" Zweck. Sie soll die Gefangenen nicht nur quaelen, sondern fuer die Zwecke der Gefaengnisverwaltung nutzbar machen. Im Interesse des "Kampfes gegen das Verbrechertum". Das es ja wirklich gibt. Ein Albtraum. Russia today... Die Dissertation von Kandinsky faellt ein. Ueber die Pruegelstrafe fuer kleinere Vergehen. Was bestimmte Gerichte machten. Russland ist ein hartes Land.

      • @fritz:

        "Sie soll die Gefangenen nicht nur quaelen, sondern fuer die Zwecke der Gefaengnisverwaltung nutzbar machen."



        Ja.



        Im Interesse des "Kampfes gegen das Verbrechertum".



        Nein.



        Folter, um z.B. „aufmüpfige“ Gefangene gefügig zu machen, Gefangene oder ihre Angehörigen zu Geldzahlungen zu erpressen, oder um von Staatsanwalt oder FSB bestellte Falschaussagen gegen Beschuldigte zu erlangen, lässt sich unter der Überschrift "Der Kampf gegen das Verbrechen ist aus dem Ruder gelaufen" nicht subsumieren. Allein die Dichotomie "Justiz hier - Verbrechen dort" ist völlig naiv und trägt nichts zum Verständnis dieser Vorgänge bei.

        Schauen Sie sich bei Gelegenheit mal Alexej Nawalnys Film „Tschajka“ von 2016 an, IMO sein wichtigster Film. Dann verstehen sie, warum in russischen Gefängnissen gefoltert wird. In dem Film geht u.a. um die Tsapok-Bande, die unter dem Schutzschirm des Generalstaatsanwaltes des Russischen Föderation Jurij Tschaika ein Jahrzent lang unbehelligt die Region Krasnodar terrorisiert und zahllose schwerste Gewaltverbrechen begangen hat, und darum, wie Jurij Tschajka die Justizbehörden instrumentalisiert hat, um Jahre lang jeden beiseite zu räumen, der seinen Söhnen beim Aufbau ihres Firmenimperiums im Weg stand.

        Englischsprachige Version:

        www.youtube.com/watch?v=3eO8ZHfV4fk

    • 8G
      83379 (Profil gelöscht)
      @Barbara Falk:

      Das wahre Wesen einer Gesellschaft zeigt sich im Umgang mit vermeintlich Kriminellen.