Aktionstag zum Wahlrecht für alle: Die Vielen ohne Stimme
Das Wahlrecht ist an die Staatsbürgerschaft gebunden. Das schließt in Deutschland knapp 10 Millionen Erwachsene aus. Die Vielen wollen das ändern.
Mitte September, in der Akademie der Künste soll es genau darum gehen. Eine Frau steht auf und schnappt sich das Mikro, das ihr gereicht wird. Aus Großbritannien käme sie, lebe aber seit 28 Jahren in Deutschland. Sie darf nicht mitbestimmen, in dem Land, das ihr Zuhause ist. „Warum hängt meine Wahl an so einem Stück Papier?“, fragt sie. Das Wahlrecht sei doch ein Bürgerrecht. „Was macht eine:n eigentlich zur Bürger:in?“, spricht sie in den Raum. Diese Frage müsse eine Gesellschaft doch wenigstens energisch diskutieren.
Die Vielen haben geladen, um über Repräsentationslücken zu sprechen. Partizipation, Diversität und eben Repräsentation fordern sie. Holger Bergmann ist Vorstandsvorsitzender des Vereins. Bei einer Demonstration gegen die AfD habe er sich einmal gefragt: „Warum sind uns diese insgesamt vier Millionen Rechte wichtiger als etwa zehn Millionen, die nicht wählen dürfen?“ Für Letztere müsse man sich doch viel eher einsetzen.
Zu ihnen gehört die Britin, die sich mittlerweile wieder gesetzt hat. Auf der Bühne, in deren Richtung sie sprach, sitzen Vertreter:innen der bildenden und darstellenden Künste. Alle stimmen ihr zu. Sie alle gehören zu eher progressiven Teilen der Gesellschaft.
Debatten mit Betroffenen führen
Sabine Bangert (Grüne) ist Vorsitzende des Kulturausschusses im Berliner Abgeordnetenhaus. In ihrem Beitrag an diesem Tag fordert sie, dass man „diese Debatten in der ganzen Gesellschaft und nicht nur auf den Bühnen führen muss“. Denn wer Forderungen für eine Gruppe stellt, sollte auch mit den Betroffenen sprechen, darüber, was sie eigentlich wollen.
„Wir planen das Projekt ja schon seit Herbst 2020 und haben dabei immer wieder Betroffene eingebunden“, erklärt Karoline Zinßer. Sie leitet die Geschäftsstelle der Vielen. Darum, konkrete Vorschläge in die Parlamente zu bringen, geht es der Organisation nicht. Vielmehr wollen sie ein Bewusstsein für das Problem schaffen. Dafür seien Kunst und Kultur die besten Wege.
Schaut man in die Wahlprogramme zu dieser Bundestagswahl, scheinen viele Parteien bereits einer bestimmten Gruppe das Recht auf Mitsprache ermöglichen zu wollen: denjenigen ab einem Alter von 16 Jahren. Diese Forderung stellen die Vielen allerdings nicht. Sie beschränken sich auf nichtdeutsche Staatsbürger:innen.
Darauf wollen sie umso mehr durch Aktionen aufmerksam machen. Am vergangenen Sonntag, den 19. September, zum Beispiel haben die Vielen eine überdimensionale Wahlurne in Wurfweite des Reichstags aufgestellt. Darin sollten die Forderungen von nicht Wahlberechtigten gesammelt werden. Unmittelbar vor der Wahl, so der Plan, solle das Anliegen noch einmal verstärkt in den Fokus rücken.
Bis zur Bundestagswahl am kommenden Sonntag wird sich für die knapp zehn Millionen Wahlunberechtigten nichts mehr ändern. Die Debatten aber sollen weitergehen, sagt Zinßer. Bloß auf welche Art genau, wüssten die Vielen noch nicht. Bleibt abzuwarten, ob bis dahin aus Aufmerksamkeit für das Problem tatsächliche politische Vorschläge geworden sind.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin