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Unabhängigkeitstag in BrasilienGeneralprobe für den Umsturz

Niklas Franzen
Kommentar von Niklas Franzen

Brasiliens Präsident Bolsonaro gerät zunehmend unter Druck. Am Unabhängigkeitstag mobilisiert er die Massen gegen das Verfassungsgericht.

Solidarität mit dem umstrittenten Präsidenten bei einer Demonstration in Sao Paulo Foto: Andre Penner/ap

E in „Flop“ sollen die Proteste von An­hän­ge­r*in­nen des brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro gewesen sein. So tönte es bereits am Dienstagnachmittag, als die Demonstrationen noch im vollem Gange waren. Zehntausende waren auf die Straße gezogen, um ihrem krisengebeutelten Idol den Rücken zu stärken. Diktaturfans, Farmer, Christen, eine krude Mischung. Und es stimmt: Am Ende demonstrierten weniger Menschen als erwartet.

Bolsonaros vollmundige Ankündigung, dass sich „das Volk“ erheben werde, ist wahrlich nicht eingetreten. Die ganz großen Bilder sind ausgeblieben. Ein Misserfolg waren die Proteste trotzdem nicht, im Gegenteil. Denn Bolsonaro hat es wieder einmal geschafft, seine radikale Anhängerschaft zu mobilisieren – und das ist das, was für ihn zählt. Seit jeher macht der Rowdypräsident ausschließlich Politik für seine Basis.

Es ist eine Politik der permanenten Mobilisierung. Bolsonaro braucht die Spannung, die Konflikte, die Empörung. Das hat er gestern mit seiner Forderung erreicht, nicht länger Entscheidungen vom Obersten Gerichtshof zu befolgen. Die Putschfantasien kommen bei seinen An­hän­ge­r*in­nen gut an. Sie feiern ihn wie einen Gott für seinen Radikalismus, für die ständigen Provokationen und für seine ungehobelte Art.

Die meisten Bolsonaro-Fans stecken ohnehin tief in Echokammern fest. Kritik von außen? Kommunistische Propaganda! Widerspruch? Lügen des Establishments! Faktenchecks? Attacken der Systemmedien! Deshalb werden sie den gestrigen Tag wahrscheinlich als Erfolg feiern. Sich im Gefühl wähnen, im Herzen eines Aufstandes gewesen zu sein. Glauben, einen wichtigen Schritt zur rechten Revolte gemacht zu haben.

Ja, Bolsonaro steckt in einer schweren Krise. Doch mit seinen fanatisierten An­hän­ge­r*in­nen an der Seite wird es ihm mit ziemlicher Sicherheit gelingen, im nächsten Jahr in die Stichwahl um die Präsidentschaft einzuziehen. Was danach passiert, ist unberechenbar. Was indes als sicher gilt: Der ausgemachte Antidemokrat Bolsonaro wird nicht einfach abdanken. Deshalb sind Proteste wie die gestrigen so wichtig, als Generalprobe für den großen Umsturz.

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Niklas Franzen
Autor
Niklas Franzen, Jahrgang 1988, ist Journalist und ehemaliger Brasilien-Korrespondent. Im Mai 2022 erschien sein Buch “Brasilien über alles - Bolsonaro und die rechte Revolte” bei Assoziation A.
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1 Kommentar

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  • Uli Reich , Autor*in ,

    Niklas Franzen dürfte Recht haben, die Bolsominions haben es wieder einmal geschafft, Bilder herzustellen, die ihren Frame "Wir sind eine Volksbewegung gegen die Elite" weiter im Diskurs verfestigen. In Wirklichkeit sind es ja gerade die agrarindustriellen und finanzwirtschaftlichen Eliten, die zusammen mit evangelikalen Fundamentalisten Bolsonaro als ihren schrillen Büttel aufgestellt haben, um ihr steinzeitkapitalistisches und sozialkonservatives Programm gegen alle Forderungen nach einer modernen, sozial und ökologisch sensiblen Wirtschaft mit einer vernünftigen Sozialversicherung durchzusetzen. Wie kann man diese diskursive Perversion wieder umkehren? Denn solange eine Mehrheit der Brasilianer*innen glaubt, dass alle wirtschaftlich und sozial progressiven Ideen vom Teufel (also Lula) oder dem Beelzebub (also Maduro) in die Welt gesetzt wurden, um das Land zu unterjochen und zu betrügen, wird es auch nichts nützen, Bolsonaro und seine drei tollwütigen Bengels abzuwählen. Sie sind ja nur das Symptom, nicht die Krankheit.