piwik no script img

Überforderung nach LockerungenDie Wiederkehr der Qual der Wahl

Vor einigen Wochen freuten sich alle auf jede noch so kleine Lockerung. Doch zu viel Angebot kann wehtun.

Seit kurzem steht man bei der Abendplanung wieder „zwischen den Stühlen“ Foto: Annette Riedl/dpa

N achdem ich mir letzte Woche dummerweise mal wieder Arbeit mit ins Wochenende genommen habe, sitze ich samstags bei hervorragendem Wetter vor meinem Schreibtisch, während meine dauerentspannten Mitbewohner zum See fahren.

Ich bin unkonzentriert, genervt und schlechtgelaunt ob meiner dummen Entscheidung. Zeile um Zeile quäle ich aufs Papier, während die Sonne draußen frech die Balkone auf der anderen Straßenseite beleuchtet.

Um 14.23 Uhr kommt die erste Nachricht: „Na, Pläne für heute Abend?“ Eine Freundin hat irgendwo eine Party aufgetan. Ich erinnere mich, dass wir lose verabredet waren. Am Mittwoch hatten wir beim Feierabendbier aufgeregt palavert, dass man ja endlich wieder tanzen kann und wir bestimmt die Einzigen in ganz Berlin seien, die das noch nicht getan haben. Ich schreibe zurück, dass ich noch beschäftigt, aber bestimmt dabei bin und mich später melde.

Um 18.17 Uhr bin ich fertig, ziehe mich blitzschnell an, schwinge mich aufs Rad und fahre, bevor der Abend beginnen kann, noch kurz zu meiner Freundin. Die bekam gestern ihre zweite Impfung, liegt meines Wissens mit Fieber im Bett und braucht jemanden, der nach ihr schaut. Als ich mein Fahrrad in den Hof schiebe, kommt die nächste Nachricht, jemand sitzt auf dem Weichselplatz, eine Jazzband spielt open air. Langsam bekomme ich Hummeln im Hintern.

Das Problem mit der FoMO

Ich betrete die Wohnung. Es ist 19.24 Uhr. Meiner Freundin geht es besser als erwartet, ihr ist langweilig und sie hat Lust auf Konversation. Wir kochen Nudeln mit Tomatensoße, ich trinke Rotwein dazu, wir unterhalten uns über allerhand Blödsinn, lachen und vergessen die Zeit.

Als ich schließlich wieder aus der Tür trete, ist es 22.38 Uhr. Ich schaue aufs Handy. 14 entgangene Nachrichten. Die Party-Freundin fragt, wo ich bleibe, ein anderer hat Besuch aus der Heimat und will zusammen was trinken gehen. Meine Mitbewohner scheinen, mittlerweile gut angeheitert, in einen Park weitergezogen zu sein. Jetzt packt mich die altbekannte FoMO, die Fear of Missing Out!

Ich schreibe allen zurück, schwinge mich aufs Rad und stürze mich endlich in die Nacht. Nicht ganz auf den Straßenverkehr achtend schicke ich Sprachnachrichten, beobachte die Nachtschwärmer und versuche abzuwägen, wo ich wohl am meisten Spaß hätte. Leicht überfordert stehe ich mit dem Fahrrad mitten auf der Weserstraße, schaue auf mein Handy und schreibe noch mehr Leuten. Ein Rennradler verwünscht meine Mutter, weil ich im Weg stehe.

Am besten alles auf einmal!

Um 23.17 Uhr sitze ich mit Schawarma vor Albaik auf der Sonnenallee und schaue auf die Straße. Eine Frau mit geschminkten Augen sitzt auf der Kante der Bank und scheint auf jemanden zu warten. Eine Teenie-Gruppe mit wagemutigen Haarschnitten fällt sich in die Arme. Jemand schickt mir einen Standort. Leute laufen an mir vorbei, geschäftiges Treiben, das Nachtleben ist wieder voll da und pulsiert um mich herum.

Vor ein paar Wochen saß ich sehnsüchtig mit einem Kumpel auf dem Balkon und wir träumten davon, dass alles wieder losgeht. Mit leuchtenden Augen erzählten wir uns, was wir zuerst machen würden, wenn der Lockdown vorbei sei. Ins Museum, ins Konzert, in die Kneipe, nein, als Allererstes natürlich Feiern!

Um 23.48 Uhr stehe ich vor meiner Haustür, völlig unfähig, eine Entscheidung zu treffen. Ich schaue verwirrt auf mein Telefon, gehe dann hoch, schmeiße meine Jacke auf die Couch und falle samt Klamotten vollkommen fertig ins Bett.

Von den 99 Ausstellungen, die ich mir in den letzten Wochen anschauen wollte, habe ich bis jetzt eine besucht. Mit dem berüchtigten Cave-Syndrom hat das bei mir wenig zu tun, sondern eher mit der wiedergekehrten Qual der Wahl.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Fabian Schroer
Social & Kommune. Schreibt hauptsächlich über Medien, Arbeit und Kultur in Berlin.
Mehr zum Thema

1 Kommentar

 / 
  • Immer mit der Ruhe..