Leben nach den Lockdowns: Völlig aus der Übung
Unser Autor muss wegen Corona soziale Interaktion wieder üben. Obwohl er seine Freunde vermisst hat, merkt er auch, dass er intoleranter geworden ist.
N eulich las ich, wie schwer es uns nun fallen dürfte, den ganz normalen Umgang miteinander wieder auf das Level vor der Pandemie zu bringen. Dass man simpelste soziale Skills völlig neu erlernen müsse.
Das wundert mich überhaupt nicht. Gerade Jüngere – ich seh das ja von meinem Balkon aus – ziehen bei jeder Begegnung eine irre Show ab. Ich stelle mir das anstrengend vor, wie sie da schrill – „hey!“ und „nein!“ und „is nicht wahr!“ und „toll!“ – quiekend Begeisterung faken; im Anschluss folgt so eine Art Affentanz aus rituellem Rubbeln, Power Hugs und Liebkosungen aus dem ganzen weiten Reich der Liebe.
Ich denke mir dann oft, dass die sich in Wahrheit wahrscheinlich weder besonders mögen, noch gut kennen, doch das ist nur mein Bauchgefühl. Beweisen kann ich es nicht. Es dürfte jedenfalls nicht so leicht sein, das nun wieder auf ein dermaßen exaltiertes Niveau hochzufahren.
Also schon allein körperlich brauchst du da ja eine Mordskondition, um auf Kommando sozial derart zu explodieren. Seilspringen, Karate, Stimmübungen, Adrenalinspritzen und dazu noch einen Guru oder Mentalcoach – anders kommt man doch nie wieder auf das Leistungsvermögen vor den Lockdowns. Aber selbst ich habe mich gefreut, meine Leute wiederzusehen. Das gebe ich zähneknirschend zu, weil ich tu ja immer gerne so, als bräuchte ich niemanden. Brauche ich aber doch, sehr sogar.
Noch „rechts“ oder schon „rechtsextrem?“
Leider fällt mir im analogen Life noch mehr auf, wie rechts die meisten eigentlich sind. Ich mag sie ja gern, aber genervt bin ich trotzdem, nicht zuletzt von meiner eigenen, im Netz konditionierten Intoleranz, die ich nun wohl wieder zu bändigen lernen muss, da ich es mit echten Menschen zu tun habe.
Unter „rechts“ verstehe ich übrigens old school einfach nur „nicht links“. Zu meiner Zeit, sprich im vorigen Jahrtausend, sprach man von „rechts“, wenn man CDU/CSU oder FDP meinte, und heute bezöge das sicher noch die SPD sowie den völkisch-rationalen Schwabenflügel der Grünen mit ein. Wer hingegen „rechtsextrem“ meinte, sagte auch „rechtsextrem“.
Jedenfalls fällt am Tisch einmal mehr erschreckend unironisch das Modebegriff „Cancel Culture“, dieser eitle Popanz, den inzwischen jeder alte Knalldepp „Känzel Kaltscher“ krächzend heraufbeschwört, sobald nur irgendwo jemand andeutet, er habe nicht so richtig Bock auf gemeinsamen Fun von und mit Arschlöchern. Ich muss jedes Mal versuchen, bei dem Quatsch nicht auszurasten, sonst habe ich am Ende gar keine Freunde mehr.
In der Öffentlichkeit Pfoten vom Puller
Überhaupt müssen auch wir Älteren die zivilen Abläufe erst wieder üben. So will ich meinem lieben Kollegen die Hand geben, sause aber glatt vorbei, und treffe mit Schwung den Solarplexus. Peinlich. „Oh, sorry“, sage ich, „ich bin total raus, ich muss das alles erst wieder lernen.“
Wie ging das denn gleich noch mal: in der Öffentlichkeit Pfoten vom Puller, Zeitung ins Altpapier, und was noch? Ich nehme mir vor, einen Riesenteddy vom Rummel zu besorgen, wenn der endlich wieder aufmacht. Und mit dem trainiere ich dann die Basics. Von der Pike auf und bis zum Erbrechen. Erst verbale Begrüßung, „hallo“, „guten Tag“, „wie geht’s?“, „schon geimpft?“
Dann die dazugehörige Choreo wie aus der Ferne zunicken, nur so kurz winken, Hand geben, umarmen, Küsschen, Luft, Wange, Mund, Zunge und Klaps auf’n Po; danach Sprechcoaching: Smalltalk, Themenwahl, Diskussion, Streit, Flirt und am Ende eigentlich immer Geschlechtsverkehr, bis der Teddy brummt. Da will ich irgendwann natürlich wieder hinkommen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Förderung von E-Mobilität
Habeck plant Hilfspaket mit 1.000 Euro Ladestromguthaben
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Scholz zu Besuch bei Ford
Gas geben für den Wahlkampf