Angst vor dem Danach: Der Traum ist aus
Unser Autor will auf diese Kolumne keinesfalls verzichten. Deshalb denkt er sich Allerhand aus, um Berlin weiter viral zu halten.
D ie Zahlen sind beunruhigend. Die Hospitalisierungsrate sinkt, die Impfquote steigt, dazukommen saisonale Einflüsse: Mit dem Virus geht es in Deutschland gerade steil bergab, und damit droht auch das Ende dieser Kolumne über den Berliner Alltag während der Pandemie.
Ich habe das Format oft und gern bedient, über dreißig Texte seit März 2020. Corona hat mich unermesslich reich gemacht. Was anderen zur Totengrube wurde, wurde für mich zur Goldgrube. Und wo andere durch Schließungen und Auftrittsverbote ruiniert wurden, überkompensierte ich ausgefallene Lesungen mit den Honoraren dieses überaus großzügigen Presseorgans.
Ich war ein feister Kriegsgewinnler, ein Parasit im Fleisch des darbenden Volks. So wie sich die Hyäne an den Überresten der verwesenden Gazelle labt, und der Lawinenhund bei jedem Unglück jubiliert, profitierte ich von der Katastrophe wie sonst nur Bestatter und Maskenschwindler, korrupte Politiker und Profischwurbler, Streaming- und Lieferdienste, echte und falsche Virologen.
Es war ein publizistisches Schlaraffenland. Die Frage nach dem Thema stellte sich nicht. Es gab ja nur noch eins, das jedoch in ungezählten Variationen, denn alles war neu. Besonders der unter dem nervlichen Druck neuartiger Unwägbarkeiten plötzlich auflodernde Hass von jeder auf jeden, der, gemessen an der Stärke des Ausbruchs, schon seit tausend Jahren unter der Oberfläche geschwelt haben muss, diente mir als Grundlage für so manche spitzzüngige Sottise.
Nach abflauenden Wellen
Allerdings wusste ich, dass mein neues Füllhorn auf wackligen Füßen stand. Denn auch die schönste Feier ist irgendwann vorbei. Eines Tages würde die Seuche beendet sein, so oder so, wäre das Virus besiegt oder die Menschheit und mit ihr auch die taz. Schon als die ersten Wellen abflauten, bekam ich es daher gehörig mit der Angst zu tun, dass dieser lange unerschöpflich erscheinende Quell meines frischen Reichtums versiegen könnte.
Also hackte ich mich in das System des RKI, um die Ziffern zu manipulieren, veränderte nach gusto mit dem Smartphone auf dem Klo die Zahl der Intensivbetten, bohrte in Drogerien heimlich Löcher in die Maskenpackungen. Ich sammelte aus den Mülltonnen hinter den Covid-Stationen das Sputum der Erkrankten und injizierte es im Supermarkt in Lebensmittel. Ich war der Obertreiber, die Mutter aller Cluster!
Überall pustete ich wild durch die Gegend, verbreitete übertrieben Panik unter Freunden, Bekannten und in der Leserschaft – meine alarmistischen Beiträge wurden unter dem Begriff „Angsthäschenschule“ zum Lehrstoff für angehende Journalistinnen.
Zurück zu den Eichhörnchen im Park
Doch nun droht endgültig das Aus. Gibt es für mich überhaupt ein Zurück zu meiner angestammten Kolumne „Liebling der Massen“, die nach dem herrlichen Verwöhnaroma der Viraltexte nun den gewohnt faden Nachgeschmack von Irrelevanz und überstrapazierter Selbstironie am Gaumen hinterlässt? Soll ich wirklich wieder über die Eichhörnchen im Park und die Kassenschlange bei Edeka schreiben? Das kann ich doch gar nicht mehr. Allein die Vorstellung macht mich müde.
Meine letzte Hoffnung sind jetzt die Mutanten, besonders die „Deltavariante“ aus „Indien“: Haha, ich könnte euch sagen, wie ich das gemacht habe. So ein Genom ist ja fix verändert; ein kleiner Schraubenzieher, etwas Blumendraht und eine Tube Uhu-Alleskleber genügt.
Und mit einem kleinen bisschen Fingerspitzengefühl geht es dann mit potzhundert Atü in die nächste Welle. So schnell sägt hier niemand den Ast ab, auf dem ich sitze: kein Gott, kein Staat, keine Redaktion, kein RKI. The Show must go on.
„Berlin Viral“ lebt!
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